Rezension: “Immer noch wach” von Fabian Neidhardt
Was am Ende wirklich zählt
Wenn ich in eine Buchhandlung gehe, habe ich eigentlich in 99% der Fälle bereits vor Augen, welches Buch beziehungsweise welche Bücher ich mitnehmen werde, denn meine Bücherwunschliste ist lang und wird immer länger. Trotzdem stöbere ich gern, auch wenn mich dann wirklich selten ein Buch spontan so sehr anspricht, dass ich es unbedingt und sofort haben muss. Am vergangenen Samstag ist aber tatsächlich wieder einmal einer dieser raren Fälle eingetreten: Kurz nach dem Betreten des Buchladens ist mir in der Auslage nahe des Eingangs Immer noch wach von Fabian Neidhardt ins Auge gestochen. Den Namen des Autors und den Titel des Buches hatte ich bis dahin weder gehört noch gesehen, aber die Covergestaltung war auf Anhieb so ansprechend, dass meine Aufmerksamkeit geweckt war. Aber nicht nur die Optik war für mich sofort interessant, sondern auch der Klappentext: Die beschriebene Geschichte voller Schwermut, aber auch Tragikomik klang genau nach meinem Geschmack. Also schnappte ich mir das hübsche Büchlein und trug es nachfolgend quer durch den Laden – nur um es vor dem Rausgehen wieder an seinen ursprünglichen Platz zurückzustellen. „Brauche ich diesen Roman wirklich jetzt auf der Stelle, obwohl so viele andere tolle Bücher schon so lange ein unbestimmtes Dasein auf meiner Wunschliste fristen?“, fragte mich beim Stöbern die Stimme der Vernunft in meinem Kopf immer wieder und so beschloss ich, Immer noch wach auch erstmal auf die Warte-/Wunschliste zu setzen. Das Ende der Geschichte war dann allerdings, dass mir der Roman danach nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte, sodass ich letztendlich später noch mal extra zu der Buchhandlung zurückgelaufen bin und mir das Buch doch noch gekauft habe. Im Nachhinein bin ich sehr froh, dass ich das getan habe, denn hier lag ich mit meinem Instinkt wirklich goldrichtig: Zwischen diesen beiden – ich muss es noch einmal betonen – hübsch gestalteten Buchdeckeln steckt eine wirklich besondere und vor allem besonders erzählte Geschichte, die nachhaltig beschäftigt.
Alex ist Anfang 30 und eigentlich ziemlich zufrieden mit seinem Leben: Gerade erst hat er zusammen mit Bene, seinem besten Freund seit Kindertagen, seinen Traum erfüllt und ein eigenes Café eröffnet, in der langjährigen Beziehung mit Lisa ist er sehr glücklich und er ist umgeben von vielen Menschen, die ihn lieben. Doch dann dreht sich sein Schicksal von einem Tag auf den anderen und eine Schockdiagnose reißt Alex den Boden unter den Füßen weg: In seinem Magen wird ein bösartiger Tumor entdeckt, der bereits gestreut hat, der Arzt stellt ihm keine Heilungschancen mehr in Aussicht. Schnell ist sich Alex klar darüber, dass er seine letzten Tage nicht so verbringen möchte wie einst sein Vater, der ebenfalls an Magenkrebs litt und am Ende vor seinen Liebsten praktisch dahinvegetierte. Zum Leidwesen seines engsten Familien- und Freundeskreises entscheidet Alex sich also dafür, zum Sterben in ein weit entferntes Hospiz zu gehen – ohne sie. Konfrontiert mit seinem nahenden Lebensende und dem Tod anderer BewohnerInnen, holt Alex im „Haus Leerwaldt“ bald nicht nur die eigene Vergangenheit ein und er merkt, dass er den frühen Verlust seiner Eltern nie ganz überwunden hat, plötzlich sieht er auch seine Beziehung(en) zu Bene und Lisa in einem neuen Licht. Eine überraschende Nachricht und die Bekanntschaft mit anderen Gästen des Hospizes, insbesondere mit dem todkranken, aber erstaunlich munteren Senioren Kasper, zu dem Alex eine ganz besondere Bindung aufbaut, wecken in ihm im wahrsten Sinne des Wortes neue Lebensgeister…
Zugegeben, der unvermittelte, recht kontextlose Buchanfang und die kurzen, immer wieder zwischen den Zeiten und Orten wechselnden Kapitel machen einem den Einstieg in die Geschichte nicht unbedingt leicht. Doch der flüssige, schnörkel- und teilweise auch etwas atemlose Erzählstil ziehen den Leser einfach mit sich mit, bis man sich nur nach einer Handvoll Seiten auch schon mitten in der Geschichte befindet und von der Neugier darüber gepackt wird, wie sich diese nun weiterentwickeln wird bzw. überhaupt erst angefangen hat. Darüber hinaus dauert es dank der warmherzigen, liebevollen Charakterzeichnung auch nicht lange, bis man die Figuren kennengelernt hat und sich in ihrem Kreise wohlfühlt. So sind es auch die eigentlich allesamt sympathischen Charaktere, die eine Klammer für die Geschichte schaffen und den Leser beim bisweilen doch recht hohen Erzähltempo an der Hand nehmen und ihm bei den kleineren und auch größeren Sprüngen in der Erzählung über den Graben helfen, der manchmal beim Nachvollziehen, wie der eine Erzählstrang nun wieder mit dem anderen zusammenhängt, kurz im Kopf entsteht. Im Laufe der Geschichte entsteht jedoch gerade auf diese Weise ein kohärentes Mosaik und die Gefühls- und Gedankenwelt des Protagonisten erschließt sich dem Leser allmählich immer mehr. So wird man unumgänglich immer tiefer in die Geschichte gezogen und versetzt sich in Alex‘ Lage oder auch die von Bene und Lisa: Was würde man an seiner beziehungsweise ihrer Stelle tun? Was ist in einer solchen Ausnahmesituation überhaupt richtig oder falsch? Und vor allem: Was zählt am Ende wirklich? Nicht auf alle Fragen, die sich einem beim Lesen stellen, bekommt man zum Schluss eine Antwort, aber allein die Denkanstöße sind bereits extrem wichtig und eine echte Bereicherung.
Zentral für die Geschichte und deren Entwicklung ist die Dreiecksbeziehung zwischen Alex, Lisa und Bene. Und ich muss zugeben, dass ich mich anfangs an dieser Art Dreierverhältnis ein bisschen gestört habe, da ich immer etwas allergisch reagiere, wenn derartige Konstellationen in Büchern auftauchen, weil dieses Element in Büchern und Filmen wirklich schon einmal zu viel bedient worden ist, wie ich finde. Das Schöne an Immer noch wach ist allerdings, dass der Roman fast ohne den in solchen Fällen altbekannten Kitsch auskommt, die betroffenen Figuren – zumindest Alex und Bene – auch für sich alleine stehen können beziehungsweise außerhalb des Dreiecksverhältnisses funktionieren und dieses auch durch eine weitere besondere Beziehung, nämlich die Freundschaft zwischen Alex und Kasper, ein Gegengewicht erhält, das den Ausgleich schafft. Generell ist der Roman nicht völlig frei von dem ein oder anderen bekannten Klischee oder Element aus Geschichten, die sich um die Themen drehen, die in Immer noch wach im Fokus stehen, aber das muss er auch gar nicht, denn er hat so viel mehr zu bieten.
Was würde man noch alles tun, wem noch etwas sagen und wen an seiner Seite haben wollen, wenn man plötzlich nur noch eine bestimmte Zeit zu leben hätte? Klar, Fragen wie diese beziehungsweise dieses Gedankenexperiment sind vor dem Hintergrund einer solchen Schockdiagnose, wie sie der Protagonist in diesem Roman erhält, in der Literatur nichts unbedingt Neues. Auch nicht die sogenannte Löffelliste und der Versuch, sich die eigenen großen Wünsche oder auch die anderer noch bestmöglich zu erfüllen, bevor man diese Welt verlässt. Alles irgendwie schon mal so oder so ähnlich an der einen oder anderen Stelle gelesen oder gesehen. Was Neidhardts Geschichte allerdings besonders macht, ist die Art, wie sie erzählt wird: Der Autor – übrigens selbsterkorener „Botschafter des Lächelns“ – behandelt ernste, schwergewichtige Themen wie Tod, Verlust und Trauer mit so einer Leichtigkeit und auf eine so warmherzige Weise, dass er dem Leser zwischen all den Tränen, die beim Lesen unvermeidbar fließen werden, auch immer wieder ein Lächeln entlockt oder ihn gar herzhaft zum Lachen bringt. Tragikomik at its best!
Dabei geht einem das Beschriebene teilweise wirklich an die Nieren. Vor allem der zweite Teil – die Geschichte lässt sich grob in drei Teile gliedern –, der Alex‘ Zeit im Hospiz schildert, liest sich sehr intensiv. Hier wird deutlich, wie sehr Fabian Neidhardt die Praktikumswoche in einem Stuttgarter Hospiz, von der er im Nachwort berichtet, geprägt haben muss, so eindringlich, detailliert und vor allem lebensnah beschreibt er die Atmosphäre und die Menschen im „Haus Leerwaldt“. So hat man sämtliche Figuren direkt vor Augen und ist hautnah beim Geschehen dabei. Das wiederum macht bestimmte Szenen fast unerträglich, dadurch aber auch umso eindrucksvoller und unvergesslicher. Gerade wer bereits einen Menschen, zu dem man eine enge Verbindung hatte, auf seinem letzten Weg erlebt oder gar begleitet hat, der oder die wird besonders an einer Stelle gegen Ende des Romanes sehr mit den Figuren mitfühlen. Es kommt nicht so häufig vor, dass mich Bücher zum Weinen bringen, aber Fabian Neidhardt hat es mit Immer noch wachtatsächlich geschafft, mich harte Nuss zu knacken: Beim Lesen dieser Szene sind bei mir wirklich alle Dämme gebrochen. Ein sehr intensives Leseerlebnis, das noch lange nachhallen wird und für das ich wirklich dankbar bin.
Neidhardt hat seinen ersten Roman im Februar 2021, mitten in einer weltweiten Pandemie, veröffentlicht – zu einem Zeitpunkt, an dem die Buchhandlungen lockdownbedingt (größtenteils) geschlossen waren und Lesungen mit Livepublikum nach wie vor leider ferne Zukunftsmusik sind. Nicht gerade die einfachsten Startbedingungen für einen Debütautoren. Dabei hat dieses Buch mit seiner wichtigen Thematik definitiv Aufmerksamkeit verdient! Deshalb möchte ich mich Benedict Wells gerne anschließen, der bei der Verkündigung des Buchstarts seines neuen Romans Hard Land (in dem es übrigens unter anderem auch um Trauerbewältigung geht) auch auf die schwierige Situation von Autorinnen und Autoren hingewiesen hat, die aktuell ihre Debütromane veröffentlichen, und möchte euch ans Herz legen, beim nächsten Besuch in der lokalen Buchhandlung gerade diesen Werken ein besonderes Augenmerk zu schenken. Auch ich werde mir das nach diesem positiven Erlebnis fürs nächste Mal verstärkt vornehmen. Und falls ihr keine Zeit zum Stöbern haben solltet, dann greift doch direkt zu Immer noch wach – vor allem am heutigen Indiebookday, an dem wir unabhängige Verlage wie den Haymon Verlag feiern, bei dem Neidhardts Debüt erschienen ist. Mit dem Themenfokus auf Krankheit, Tod und Trauer ist der Roman in Pandemiezeiten sicherlich nicht die leichteste Kost, aber gerade deswegen auch besonders wertvoll, denn er macht Mut – und davon können wir schließlich alle momentan eine Extraportion vertragen.
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