Rezension: “Die Farben des Sees” von Rike Richstein

Feinsinnige und tiefgehende Liebeserklärung an den Bodensee

Seit mehr als 13 Jahren sehe ich den Bodensee fast täglich, manchmal ganz aus der Nähe, manchmal nur aus der Ferne, und in der Zeit habe ich sicherlich unzählige Stunden damit verbracht, den Blick über das Wasser schweifen zu lassen, seine Farben mal mehr, mal weniger bewusst wahrzunehmen, dabei den eigenen Gedanken nachzuhängen und über (un-)mögliche „Was wäre (gewesen), wenn…“-Szenarien oder die eine oder andere (nicht) getroffene Entscheidung zu sinnieren. Die junge Autorin Rike Richstein hat sich vom Bodensee und all seinen Nuancen zu einem berührenden Roman inspirieren lassen, der sich genau um die richtigen und falschen Entscheidungen im Leben dreht und sich gleichzeitig wie eine Liebeserklärung an das Schwäbische (bzw. Badische) Meer liest.

Als kleines Mädchen ist sie das letzte Mal dort gewesen, nun findet sich die Anfang 20-jährige Matilda plötzlich als Eigentümerin des Hauses ihrer vor Kurzem verstorbenen Großmutter Enni in einem Städtchen am Bodensee wieder. Sie hatte seitdem keinen Kontakt mehr zu ihr gehabt und nutzt die Gelegenheit jetzt, um mehr über Enni und den Grund des Kontaktabbruchs damals zu erfahren, aber auch um sich vom Liebeskummer nach der kürzlichen Trennung von ihrem langjährigen Freund Mads abzulenken. Ein altes Foto, das sie in Ennis Nachttischchen entdeckt und ihrer Besitzerin offenbar viel bedeutet haben muss, führt sie schließlich zu dem betagten Hans Wells, dessen Geschichte Matildas Blick auf ihre Familie und ihre Großmutter im Besonderen auf einen Schlag ändert und damit auch die Achsen ihrer eigenen Welt sowie ihre Sicht der Dinge zunächst merklich verrückt, aber letztendlich auch auf eine erstaunliche Weise wieder gerade rückt.

Zwar war Matilda für mich als Figur nicht ganz einfach zu greifen und mein Bild von ihr blieb bis zum Schluss etwas verschwommen, umso leichter fiel es mir jedoch, ihre Gedanken und Gefühle nachzuvollziehen, weshalb ich mir Matilda dennoch nahe fühlte. Rike Richstein ist es hier anhand ihrer Protagonistin wunderbar gelungen, die innere Zerrissenheit über bereits getroffene und noch zu treffende (Lebens-)Entscheidungen und die Suche nach Orientierung und Antworten auf Fragen zur eigenen Vergangenheit, Gegenwart und vor allem zur Zukunft, die einen nicht nur, aber besonders auch im Alter zwischen Anfang 20 und Anfang 30 umtreiben, authentisch darzustellen. Meine persönliche Lieblingsstelle in Die Farben des Sees unterstreicht dies, wie ich finde, sehr gut: 

Zwar ist sie in diesem Alter, in dem man sich schon mal verloren fühlt, weil man alle Möglichkeiten zu haben scheint und doch nur wenig davon wahr wird; weil man so gerne noch mal Kind wäre, aber es einfach nicht schafft, dieses Gefühl wieder zu erzeugen; weil die Welt bedrohlicher wird, wenn man sie besser versteht; weil alle so viel von einem erwarten und man selbst am meisten. (S. 148/149)

Überhaupt überzeugt Rike Richenstein in ihrem Roman sprachlich auf ganzer Linie: Sie formuliert präzise und feinsinnig, findet für genaue Beschreibungen originelle sowie wunderschöne Vergleiche und bringt so manchen komplexen Gedankengang, für den man selbst keine Worte gefunden hätte, so treffend auf den Punkt, dass man nur staunen kann. Hierfür beispielhaft ein paar bemerkenswerte Textabschnitte:

Das Licht wird schwächer und die Farben von vorhin sind inzwischen alle nur noch ein verwaschenes Hellgrau, wie geschmolzene Regenwolken. (S. 68)

Bei ihrem letzten Treffen sah er sie an, wie man sich eine Landschaft am letzten Ferientag ansieht. (S. 142)

Er erinnert mich an den Herbst, in dem ich dich gefragt habe, welches Geräusch ein brechendes Herz macht. Vermutlich ist es leise wie das Geräusch der Herbstblätter, wenn der Wind sie über den Asphalt treibt. (S. 104)

Einmal hat sie eine Nacht durchgetanzt und für wenige Stunden hat es sich wirklich angefühlt, als wäre sie in eine Welt zwischen den Zeiten gelangt, als würden Vergangenheit und Zukunft über ihr vorbeifließen und sie nicht mehr berühren. (S. 43)

Wenn man vor etwas flieht, das tief in einem drinsteckt, ist es egal, wo man hinfährt, es wird einen früher oder später einholen. (S. 31)

Gerade was die letzten beiden Textauszüge anbelangt, bin ich fast überzeugt davon, dass sie in genau diesem oder zumindest in einem sehr ähnlichen Wortlaut auch in einem Werk eines ganz bestimmten Autors vorkommen könnten, der mit seinem Nachnamen nicht nur Pate für eine der Hauptfiguren in Die Farben des Sees gestanden, sondern auch noch selbst einen kleinen Platz darin gefunden hat: Die Rede ist von keinem Geringerem als Benedict Wells. In ihrem Duktus und besonders mit der Melancholie, die Richstein in beinahe jeder Zeile ihres Romans mitschwingen lässt, erinnert die Autorin bisweilen frappierend an den Bestsellerautor Wells.

Es ist eine ruhige, sich langsam entfaltende Geschichte, die Rike Richstein hier erzählt, und auf den knapp 220 Seiten passiert plottechnisch tatsächlich nicht allzu viel, und dennoch wühlt sie auf und hallt vor allem lange nach, denn es werden grundlegende Fragen wie zum Beispiel „Ist es besser, etwas zu bereuen, das man getan hat, oder etwas zu bereuen, das man nicht getan hat?“ (S. 184) oder „[…] wohin [gehen] diese Abende […], wenn sie vorüber sind? An den gleichen Ort, an den die Liebe geht, die vorüber ist?“ (S. 72) aufgeworfen, auf welche die Leser:innen und für sie stellvertretend Matilda entweder nur selbst eine Antwort finden können oder für welche es schlicht keine definitiven Lösungen gibt. So lässt auch Richstein passend dazu manche Enden in der Erzählung bewusst lose und als Leser:in wird man auch über die Lektüre des Romans hinaus noch von der Fragestellung umgetrieben, wie man wohl selbst an Ennis, Hans’ oder Werners Stelle gehandelt hätte.

Angesichts des Titels Die Farben des Sees möglicherweise wenig überraschend, aber dennoch hinreißend sind auch die vielen mal direkten, mal eher subtilen Anspielungen an das Element Wasser sowie ganz konkret die jeweiligen Kapiteleinleitungen, in denen die unterschiedlichen Farbnuancen des Sees beschrieben und die im Verlauf der Geschichte noch kontextualisiert werden. Für mich zählen viele dieser unheimlich poetisch anmutenden Kapitelanfänge mit zu den bemerkenswertesten Passagen in dem Roman und wer sich schon einmal selbst daran versucht hat, die oft nur so schwer in Worte zu fassenden Schattierungen eines Sees oder des Meeres zu beschreiben, wird sicherlich wie ich von Rike Richsteins eindrücklicher Charakterisierung des Bodensees beeindruckt sein. Und so ergeben all jene Abschnitte zusammen auch ein stimmiges Porträt eben dieses Sees, das in seiner Gesamtheit auch durchaus als eine Liebeserklärung gelesen werden kann.

Zwar fällt weder der Name „Bodensee“ in dem Roman noch erfährt man, um welche Stadt am See es sich genau handelt, die Matilda besucht, doch wer dort lebt und/oder sich auskennt, der/die wird das eine oder andere geschilderte Eckchen wiedererkennen oder zumindest meinen, wiederkennen zu können – und selbst ohne Bodenseebezug werden Liebhaber:innen von Seen und Meeren sicherlich ebenfalls ihre Freude an diesem tief berührenden Roman haben. In diesem Zusammenhang ist zudem noch die wunderschöne und hochwertige Gestaltung des Buches hervorzuheben, welche Rike Richsteins Die Farben des Sees zusätzlich zum Inhalt an sich auch optisch und haptisch zu einem echten Lesegenuss macht.

Werbung – Vielen Dank an dieser Stelle an die Autorin sowie den Verlag Stadler für die Zusendung des Leseexemplars.

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