Rezension: “Hard Land” von Benedict Wells

Federleicht & bleischwer: Die Geschichte eines bittersüßen Sommers

Fast genau fünf Jahre ist es her, dass Benedict Wells‘ letzter Roman Vom Ende der Einsamkeit erschienen ist. Sieben lange Jahre hat er damals an seinem Bestseller geschrieben und gefeilt. Und auch wenn er für seinen neuen Roman Hard Land nicht ganz so lange gebraucht hat (und in der Zwischenzeit alles andere als untätig war – 2018 erschien sein Kurzgeschichtenband Die Wahrheit über das Lügen), sind die Jahre und Monate für begeisterte Wells-Fans (wie meine bescheidene Wenigkeit) trotz allem nur langsam ins Land gezogen. Es hat eine gefühlte Ewigkeit gedauert, bis man das sehnlichst erwartete Buch nun endlich in den Händen halten konnte – nur um dann damit dazusitzen und sich nicht richtig entscheiden zu können, ob man dem Leseverlangen nun direkt nachgeben oder die Vorfreude noch ein kleines bisschen länger auskosten möchte. Startet man dann doch (früher oder auch später) mit dem Lesen, geht es wieder von vorn los: Einerseits fliegt man nur so durch die Seiten, andererseits ist man entweder damit beschäftigt, sich selbst zu bremsen, um die Lektüre möglichst lange genießen zu können, oder legt aber auch ab und zu freiwillig eine Pause ein, um das eben Gelesene zu verdauen. Wahrlich eine emotionale Achterbahnfahrt. So oder so ähnlich geht es auch Wells‘ neuem Protagonisten Sam, der in Hard Land den „schönsten und schlimmsten Sommer [s]eines Lebens“ (S.19) mit vielen nie-enden-sollenden, aber auch mit fast so vielen nie-enden-wollenden Momenten erlebt. Eine bittersüße Coming-of-Age-Geschichte, die mal federleicht, mal bleischwer daherkommt und teilweise zwar etwas schmerzt, aber letzten Endes eben auch irgendwie wieder alles gutmacht – eine große Kunst, die Benedict Wells mittlerweile bis zur Perfektion beherrscht.

Missouri im Sommer 1985: Vor dem 15-jährigen Sam Turner liegen lange, trost- und vor allem (vermeintlich) ereignislose Wochen. Sein bester Freund ist nach Kanada gezogen, andere Freunde oder Bekannte hat Sam nicht und sowieso ist es für ihn als Außenseiter und jemand, der nur schwer aus sich herauskommt und mit vielen Ängsten zu kämpfen hat, nicht leicht, überhaupt Kontakte zu knüpfen – erst recht nicht in einer Kleinstadt wie Grady, in der ohnehin nicht viel los ist. Doch dann kommt (gerade noch rechtzeitig) die Rettung in Form eines Ferienjobs im „Metropolis“, Gradys altem Kino, und Sams Leben dreht sich plötzlich auf den Kopf: Er findet Anschluss und wird Teil einer Clique, geht auf Partys, kommt das erste Mal so richtig aus sich heraus und lernt erstmals die schönen, aber auch teils weniger schönen Seiten des Verliebtseins kennen. Doch als Sam (mehr oder weniger unerwartet) mit den Themen Tod und Trauer konfrontiert wird, nimmt das kurze Sommerglück ein jähes Ende: Auf einmal muss er schneller erwachsen werden, als ihm lieb ist – und wächst dabei trotz oder gerade wegen all des Schmerzes über sich hinaus.

Freundschaft ist, wie auch in einigen seiner anderen Werke, in Wells‘ neuem Roman Hard Land ein zentrales Thema. Und wie schon bei seinen anderen Büchern ist auch hier bei der Lektüre ein ganz besonderes Phänomen festzustellen: Nach nur wenigen Seiten hat man als Leser das wunderbare Gefühl, einen guten, alten Freund wiederzutreffen – das typische „Wells-Feeling“, das sich auch darin äußert, dass man sich in den Zeilen direkt aufgehoben und auf eine gewisse Art und Weise geborgen fühlt. Zur Entstehung dieses ganz speziellen Gefühls tragen viele Aspekte bei, einer der wichtigsten Punkte dabei ist aber sicherlich die Tatsache, dass man den Eindruck hat, nicht nur der Autor, sondern auch man selbst habe das Beschriebene persönlich er- beziehungsweise durchlebt, so tiefempfunden und authentisch (der englische Begriff „heartfelt“ trifft es noch besser) wirken sämtliche Szenen in Hard Land. Da überrascht es auch nicht, dass tatsächlich viel vom Autor selbst im Protagonisten Sam steckt – so viel hat Benedict Wells zumindest bei einem vom Verlag veranstalteten Bloggertreffen Anfang Februar verraten. Wie viel Wells davon nun wirklich widerfahren ist und was er nur gerne (oder auch weniger gerne) erlebt hätte, bleibt zwar Spekulation, dennoch ist es etwas ganz Besonderes, wenn sich eine Geschichte so echt, so „gelebt“ anfühlt.

Der frische, lockere Schreibstil von Wells und die dem Genre des Coming-of-Age-Romans angepasste jugendlich zwanglose Sprache holen den Leser außerdem ganz nah ans Geschehen heran – ohne je dabei an Tiefgründigkeit einzubüßen. Denn was wäre ein richtiger Wells-Roman ohne den nötigen Tiefgang und die gerade richtige Dosis Melancholie? Und so wartet der Autor auch in Hard Land wieder mit einer Fülle an poetischen Sätzen auf, die manchmal so simpel daherkommen, aber trotz allem mitten ins Herz gehen, sodass man am liebsten (mindestens!) jede zweite Seite im Buch mit einem Lesefähnchen versehen möchte. Solche Zitate für die Ewigkeit sind zum Beispiel:

„Mein Vater war mir immer wie eine heruntergelassene Jalousie vorgekommen. Doch an jenem Mittag konnte ich wenigstens durch die Ritzen spähen.“ (S.47)

„Sonst aber passierte nicht viel. War Kirstie nicht im Kino, fehlte den Witzen die Pointe, war der Sommer weniger heiß, das Popcorn weniger knusprig und die Cola nicht so prickelnd wie sonst.“ (S.61)

„Das alles zu hören war, als hätte jemand an einem dunklen Ort in mir ein Streichholz angezündet. Ich ließ es in diesem Moment auf mich wirken, ich lasse es jetzt auf mich wirken, und ich glaube, ich werde es noch mein ganzes Leben lang auf mich wirken lassen.“ (S.282)

Und wenn eine Textstelle aus Hard Land perfekt beschreibt, was Benedict Wells‘ wunderbare Sätze in ihrer Gänze im Leserherz bewirken, dann vermutlich diese hier: „Worte dagegen waren nicht so leicht zu durchschauen, dafür konnte man etwas in ihnen finden, das tröstete und einem das Gefühl gab, nicht allein zu sein.“ (S.303) Schon allein dafür lohnt es sich, zu diesem (oder auch jedem anderen) Roman von Wells zu greifen – auch wenn man (wie etwa die Verfasserin dieses Textes) vielleicht nicht der allergrößte Fan von Coming-of-Age-Romanen ist. Denn obwohl Hard Land die Erlebnisse eines Teenagers schildert, ist es im Grunde ein Buch für Erwachsene beziehungsweise für jeden, schließlich werden hier – wieder typisch für Wells‘ Romane – viele der ganz großen Themen der Menschheit, wie zum Beispiel Verlust, Freundschaft oder Selbstverwirklichung, behandelt. Um ein bestimmtes Thema dreht sich Hard Land, ähnlich wie auch Wells’ Bestseller Vom Ende der Einsamkeit, jedoch besonders, nämlich die Frage, „[…] wie jeder von uns von unterschiedlichen Erlebnissen geprägt wurde“ (S. 65). Und so fragt man sich auch als Leser, während man mitverfolgt, wie Sam mit seinem Verlust umgeht und daran wächst, wie man selbst an dessen Stelle handeln würde und reflektiert dabei die eigenen, prägenden Erlebnisse.

Als geneigter Wells-Leser entdeckt man außerdem noch weitere (inhaltliche) Parallelen zu seinen anderen Büchern, zu nennen wäre hier beispielsweise die Krise des Protagonisten. Die vielleicht schönste Parallele ist aber die Tatsache, dass Musik in Benedict Wells‘ Werken immer eine große Bedeutung hat, so auch in Hard Land. Hier ist die Hauptfigur Sam nicht nur ein angehender Singer-Songwriter, der auf der Gitarre seine eigenen Lieder komponiert, bestimmte Lieder der 80er finden auch ihren Weg in die Geschichte und spielen darin eine kleinere oder auch größere Rolle. Hierfür hat der Autor höchstpersönlich – in mühevoller, monatelanger Recherchearbeit – auch wieder eine extra Playlist (beziehungsweise sogar zwei Playlists) passend zum Buch erstellt, die, lässt man sie im Hintergrund laufen, im Handumdrehen die ideale Atmosphäre beim Lesen schafft und den Leser direkt in die 80er Jahre katapultiert. Obwohl Wells dies mit seiner liebevollen und detaillierten Beschreibung der Ära und ihrer Besonderheiten, mittels derer der Leser die Sehnsucht des Autors nach und seine Faszination für diese Zeit deutlich spürt, ohnehin mühelos gelingt – die Playlist ist also lediglich ein toller Bonus, der jedoch nicht zu verachten ist, vor allem wenn man Musik liebt.

Aber auch mit seinen Figuren transportiert Wells das 80er-Jahre-Gefühl und vor allem sämtliche Sehnsüchte, die in der Geschichte ihren jeweils ganz besonderen Ausdruck finden, über die Seiten zum Leser, sodass man nicht umhinkommt, jede einzelne von ihnen direkt ins Herz zu schließen. Da ist also zum Beispiel nicht nur der (anfangs) unsichere Sam, der mit seinen Ängsten zu kämpfen hat und schließlich über sich hinauswächst, sondern beispielsweise auch die nach außen so tough wirkende, aber innen umso zerbrechlichere Kirstie, High Tower mit seinem auf den ersten Blick so perfekten, aber letztendlich alles andere als einfachen Leben, oder auch Sams Vater – die vielleicht komplexeste und deshalb umso liebenswerteste Figur des Romans –, dem es aufgrund bestimmter Erlebnisse in seiner Vergangenheit nicht leicht fällt, seine Liebe für seinen Sohn auszudrücken. Ihn und auch (fast) alle anderen Figuren aus Hard Land möchte man beim Lesen abwechselnd wachrütteln und in den Arm nehmen, weshalb es einem am Schluss umso schwerer fällt, all die liebgewonnenen Figuren loszulassen und das Ende der Geschichte zu akzeptieren. Denn wenn es eine Sache an diesem sonst so wunderbaren Roman zu bemängeln gibt, dann die Tatsache, dass man am Schluss (noch) nicht mit der Geschichte abgeschlossen hat (und deshalb ein kleines bisschen unbefriedigt ist). Mehr soll an dieser Stelle jedoch nicht zum Romanende verraten werden, aber wer das Buch schon gelesen hat, versteht vielleicht, was gemeint ist.

Auch eine weitere Komponente des Romans beschäftigt den Leser noch weit über die Lektüre hinaus: die sprachliche Ebene, der in Hard Land eine ganz besondere Bedeutung zukommt, steckt in dem Roman doch ein „Buch im Buch“ in Form eines Gedichtbands, der im Laufe der Geschichte eine ganz besondere Rolle spielen wird und ebenfalls den Titel „Hard Land“ trägt. So begibt man sich gemeinsam mit Sam auf Spurensuche, was es genau mit den Gedichten des einzigen Bürgers von Grady auf sich hat, der (bis dahin) jemals über die Grenzen der Kleinstadt hinaus einen gewissen Grad an Bekanntheit erlangt hat. Und wer den amerikanischen Autor Joey Goebel, ebenfalls beim Diogenes-Verlag zuhause, und dessen Bücher kennt, der wundert sich eventuell auch über die phonetische Ähnlichkeit des Titels mit Goebels Roman Heartland, die natürlich alles andere als ein Zufall ist. Überhaupt scheint Goebel Wells‘ neuen Roman offenbar in vielerlei Hinsicht beeinflusst zu haben, und wer genau liest, trifft zwischen den Seiten auch auf Joey Goebels (real existierende) Band – eine schöne Geste der Freundschaft und Verbundenheit vom einen Schriftstellerkollegen an den anderen.

Beim Bloggertreffen zu Hard Land berichtete Benedict Wells, dass er beim Schreiben seiner Bücher noch nie so sehr bei sich gewesen wäre und noch nie so viel Spaß daran gehabt hätte als beim Verfassen seines neuesten Romans – und das spürt man in jeder Zeile und in jedem einzelnen Wort. Vielleicht ist auch gerade das der Grund, wieso dieses Buch trotz seiner oft sehr ernsten und schweren Thematik so viel Hoffnung und vor allem solch eine immense Wärme ausstrahlt. Und so fühlt man sich beim Lesen oft und ganz besonders am Ende von Hard Land tatsächlich „euphancholisch“ – eine Wortneuschöpfung von Benedict Wells, mit der eine seiner Figuren das Grundgefühl der Jugend, das zwischen Euphorie und Melancholie schwingt, beschreibt. Einerseits ist man vom Glück berauscht, mit einer so berührenden Geschichte beschenkt worden zu sein, andererseits ist einem aber auch schwer ums Herz, weil sie nun zu Ende erzählt ist. Aber wenn wir mal ehrlich sind: Bei welchem der Romane von Wells ist es nicht so? Auch wenn seine Bücher dem Leser immer ein bisschen wehtun oder gar einen Stich ins Herz verpassen, nimmt man den Schmerz gern in Kauf, denn gleichzeitig spenden die Bücher auch stets viel Trost – ganz ähnlich einer langen Umarmung, bei der man zwischendurch vielleicht einmal ein bisschen zu fest gedrückt wird, sodass es kurz schmerzt, die aber letztendlich auch irgendwie wieder alles in einem geraderückt.

Werbung – Vielen Dank an dieser Stelle an den Diogenes Verlag für das Leseexemplar und die Möglichkeit, dieses Buch besprechen zu dürfen.

Kommentare

  1. Nach einer (neuen und weiteren) so begeisterten Besprechung zu Benedict Wells’ neuem Roman habe ich mir jetzt auch mal vorgenommen, beizeiten einen von ihm zu lesen. Der poetische Titel “Vom Ende der Einsamkeit” spricht mich derzeit mehr an; aber nach deiner Besprechung würde ich auch sofort zu “Hard Land” greifen. Allerdings mit ein bisschen Abstand, meine letzte Lektüre (Coming-of-Age in Missouri/Montana) “Big Sky Country” hat mich zuletzt ein wenig enttäuscht zurückgelassen, was Thema und Region angeht. Viele Grüße!

    1. Liebe Jana, das würde mich wirklich sehr freuen, wenn meine Rezension tatsächlich ihren Teil dazu beitragen konnte, dass du Benedict eine Chance geben möchtest. Ich verspreche dir: Es lohnt sich auf alle Fälle – egal, mit welchem Buch du letztendlich beginnst. 🙂 Und wenn ich ehrlich bin, würde ich “Hard Land” auch wahrscheinlich nicht als ersten Wells empfehlen – erst recht, nachdem du ja auch erst eine Coming-of-Age-Geschichte gelesen hast. Ich denke, da ist “Vom Ende der Einsamkeit” nicht der schlechteste Anfang (auch wenn es ja nicht mein persönlicher Lieblings-Wells ist). 😉 Hach, da bin ich jetzt fast ein bisschen neidisch, dass du noch all die tollen Geschichten vor dir hast – genieß es in vollen Zügen! Ganz liebe Grüße 🙂

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