Rezension: “Der längste Schlaf” von Melanie Raabe

Auf dem schmalen Grat zwischen Traum und Wirklichkeit 

Wer kennt die Art von Träumen nicht, die so echt wirken, dass die Grenzen zwischen dem Imaginären und dem wahren Leben für einen kurzen oder auch längeren Moment verschwimmen und man sich nach dem Aufwachen vorübergehend nicht sicher sein kann, ob man immer noch träumt? Einen solchen Traum habe ich kürzlich erst wieder sprichwörtlich erlebt und bin dabei voller Schrecken und mit Herzrasen auf unangenehme Weise aus dem Schlaf katapultiert worden. Ob das etwa der Einfluss von Melanie Raabes neuem Roman Der längste Schlaf war, der sich ganz intensiv um die Themen „(Alp-)Träume“ und „Schlaf“ dreht? Vielleicht. Immerhin hatte und habe ich – im Gegensatz zu Raabes neuer Hauptfigur Mara, die mit extremer Insomnie zu kämpfen hat – nach solchen Traumerlebnissen in den meisten Fällen zum Glück keinerlei Probleme, weiterzuschlafen. Nichtsdestotrotz hat mich Melanie Raabes neuester literarischer Clou letztendlich doch um die eine oder andere wertvolle Stunde Schlaf gebracht, da es die bildgewaltige Sprache und der ausgesprochen raffinierte Wechsel zwischen Thriller-, Krimi-, Schauer- und sogar Fantasyelementen einem bisweilen schlicht unmöglich machen, das Buch aus der Hand zu legen.

Die Neurowissenschaftlerin Mara Lux ist eine Koryphäe auf dem Gebiet der Schlafforschung, ironischerweise jedoch selbst von extremer Schlaflosigkeit betroffen – hervorgerufen von und bedingt durch ihre große Angst vor den eigenen sehr realen und bisweilen prophetischen Träumen, die sie seit ihrer Kindheit heimsuchen und seitdem immer wieder auf unerklärliche und oft dramatische Weise die Grenze zur Wirklichkeit übertreten haben. Mara lebt und forscht in London, ihre Eltern hat sie früh verloren und bis auf ihre geliebte Adoptivschwester Roxi besitzt sie keine familiären Verbindungen mehr nach Deutschland. Umso überraschter ist sie, als sie eines Tages die Nachricht einer deutschen Kanzlei erreicht, dass ihr von einem Unbekannten ein altes Herrenhaus in einem kleinen und ihr unbekannten Städtchen in Deutschland vermacht worden sei. Voller Neugier, was es damit wohl auf sich hat, reist Mara nach Limmerfeldt, wo sie auf so manche Geister der Vergangenheit und der Gegenwart trifft: Dieser eigentümliche Ort und das noch ominöser scheinende Herrenhaus veranlassen die junge Frau zu einer teils rausch- und fieberhaften Erkundungsreise des Unbekannten und Unterbewussten, stets auf dem schmalen Grat zwischen Traum und Wirklichkeit, wo sich Maras Weg schließlich auch auf rätselhafte Weise mit dem Schicksal zweier verschwundener Kinder kreuzt.

Wenn Romanfiguren, obgleich Haupt- oder Nebencharaktere, so detailliert, authentisch und plastisch beschrieben sind, dass sie förmlich von den Seiten zu springen scheinen, dann macht das für mich schon oft die halbe Miete eines gelungenen Buches aus. Diese große Kunst beherrscht Melanie Raabe seit ihrem ersten Werk meisterlich. Wenn es Autor*innen dann noch gelingt, neben den eigentlichen Figuren zusätzlich noch bestimmte, vermeintlich leb- und seelenlose Objekte oder „Existenzen“, wie zum Beispiel Städte, Wälder oder Häuser, zum Leben zu erwecken und gar zu ganz eigenen Charakteren in ihren Werken zu machen, bin ich als Leserin völlig hin und weg. Haus Limmerfeldt in Der längste Schlaf ist ein Paradebeispiel dafür: Melanie Raabe beschreibt das alte Herrenhaus, das Mara aus für sie zunächst nicht nachvollziehbaren Gründen geerbt hat, seine Räume sowie seine unmittelbare Umgebung (Stichwort: Garten!) so unglaublich bildhaft, dass man als Leser*in glaubt, dieses zusammen mit oder anstelle von Mara mit allen Sinnen entdecken zu können. Gleichzeitig entzieht sich das Haus ab einem gewissen Punkt jedoch immer wieder dem Zugriff sowohl durch Mara als auch die Leser*innen – damit wirkt es anziehend und abstoßend zugleich, ein für mich sehr spannender Kontrast. Vielleicht fiel es mir auch deshalb nicht schwer, mir Haus Limmerfeldt vorzustellen, weil es in meinem Heimatdorf tatsächlich auch ein altes Haus gab, um das sich (genauso wie um seine Besitzerin) unzählige, hauptsächlich völlig absurde Mythen rankten und das deshalb vor allem auf Kinder und Jugendliche eine im wahrsten Sinne des Wortes unheimliche Faszination ausübte. Auf alle Fälle sind das Herrenhaus und sein ehemaliger Besitzer für mich die heimlichen Stars in Der längste Schlaf und nicht nur einmal habe ich mir beim Lesen gewünscht, das Haus und insbesondere einen ganz bestimmten Raum wirklich einmal betreten zu können – auch wenn ich dort sicherlich keine einzige Nacht hätte verbringen wollen…

Tatsächlich habe ich mich nämlich beim Lesen schon lange nicht mehr so gegruselt wie an manchen Stellen in Der längste Schlaf! Eine gepflegte Ladung Nervenkitzel im Rahmen einer großen Spannungskurve bin ich von Melanie Raabes Werken gewohnt beziehungsweise erwarte diese auch, die teils leichten, selten auch einmal stärkeren Schauerelemente in ihrem neuesten Roman waren mir allerdings neu, haben mich aber positiv überrascht und waren zumindest für meinen Geschmack wohlproportioniert. Insgesamt kommt Der längste Schlaf nicht nur auf den ersten Blick – allein die (im Übrigen wunderschöne) Covergestaltung hebt sich stark vom brillanten Vorgänger Die Kunst des Verschwindens ab und erinnert damit zumindest in der Farbwahl wieder mehr an Raabes erste drei Thriller – etwas düster und unheimlich daher und so manche Themen (zum Beispiel Unfalltod, Trauerbewältigung, PTSD oder das Verschwinden von Kindern) sind sicher nichts für allzu empfindliche Gemüter, dennoch steckt auch in Raabes neuem Roman ähnlich wie in seinem Vorgänger so viel Licht und Wärme, die immer wieder zwischen den Zeilen durchscheinen und Hoffnung geben. Gerade die Tatsache, dass Raabe in Der längste Schlaf viel Platz für Personen einräumt, die mit ihrer verschrobenen, möglicherweise eigenbrötlerischen Art oder ihren speziellen Interessen in den Augen vieler anderer als Sonderlinge gelten, hat mir besonders gut gefallen – ebenso wie Melanie Raabes ermutigende Botschaft besonders an eben jene Persönlichkeiten, letztendlich jedoch an all ihre Leser*innen, unbeirrt den eigenen Weg zu gehen und so zu sein, wie und wer man ist.

Für eine Geschichte, die sich um den Gegensatz zwischen Traum und Wirklichkeit, Bewusstem und Unbewusstem sowie Verstand und Gefühl dreht und in der nüchterne, wissenschaftlich erklärbare Fakten auf übernatürliche, zwischenweltliche Phänomene treffen, ist es nicht abwegig, wenn sich die Autorin bisweilen Elementen aus den Bereichen Fantasy, Märchen und Magischem Realismus bedient. Zugegebenermaßen fiel es mir hier nicht immer leicht, mich ganz darauf einzulassen, aber dieser Genremix und all die verschiedenen feinen Nuancen der Erzählung ergeben in der Summe ein durchaus stimmiges Bild. Überraschend, da bis zum Schluss undurchschaubar, ist auch der Zusammenhang zwischen den beiden Erzählebenen bzw. Erzählperspektiven, die sich sprachlich stark voneinander abheben und von der Autorin schließlich auf beeindruckende Weise miteinander verwoben werden: Die Auflösung geht definitiv unter die Haut und hallt nach. Ein rundum schaurig-schöner Roman, der sich thematisch und erzählerisch perfekt für einen langen Leseabend oder auch eine schlaflose Nacht in der nun beginnenden dunkleren Jahreszeit eignet.

Werbung – Vielen Dank an dieser Stelle an btb und Melanie Raabe für das Leseexemplar und die Möglichkeit, dieses Buch besprechen zu dürfen.

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