Rezension: “Die Kunst des Verschwindens” von Melanie Raabe
Eine magische Geschichte über das Suchen und Finden, Fortgehen und Ankommen
Kann eine einzige Begegnung den Lauf eines Lebens verändern? Gibt es tatsächlich so etwas wie Seelenverwandtschaft? Und was bleibt von uns, wenn wir nicht mehr da sind? Fragen, die sich wohl jede*r schon einmal gestellt hat, deren Beantwortung jedoch alles andere als leicht fällt bzw. gar schier unmöglich scheint. Genau diesen Fragen widmet sich Bestsellerautorin Melanie Raabe in ihrem neuesten Werk Die Kunst des Verschwindens und präsentiert ihren Leser*innen darin eine unheimlich faszinierende Annäherung an eben solche Themen, die einem beim Versuch, sie zu greifen, am Ende doch irgendwie wieder entgleiten, und zeigt dabei auf: Ein bisschen Magie kann der Schlüssel sein. Und nicht nur die Geschichte über eine Reise zweier Frauen zueinander hin, voneinander weg und schließlich zu sich selbst zurück hat etwas Magisches an sich, sondern auch das Buch selbst, das sich genretechnisch in keine Schublade stecken lässt, sprachlich und stilistisch brilliert, konstant die Spannung hält, dafür jedoch kein Stück an Tiefe einbüßt und unglaublich berührt.
In der Zeit zwischen den Jahren kommt es im winterlichen Berlin zu einer schicksalhaften Begegnung zweier Frauen Anfang 30: Bei einem kurzen Abstecher zum Späti um die Ecke trifft die Fotografin Nico auf die Schauspielerin Ellen Kirsch. Während die eine ihren Traum von der Bühne eigentlich schon begraben hat und stattdessen versucht, sich einen Namen als Fotografin zu machen und eine erste eigene Ausstellung an Land zu ziehen, befindet sich die andere mit einem eben erst beendeten gefeierten Engagement am New Yorker Theater und einer Hauptrolle in einer international beachteten Serienproduktion, die in Kürze Premiere feiern wird, auf dem Zenit ihrer Karriere. Zwei Frauen, deren Leben auf den ersten Blick nicht unterschiedlicher sein könnten, und die doch mehr gemeinsam haben, als es zunächst scheint: Die Traumata der Vergangenheit noch nicht ganz verarbeitet, hinterfragen beide nach einem Schicksalsschlag ihre aktuelle Situation und sind auf der Suche nach Antworten – und über ihr bis aufs Jahr identische Geburtsdatum hinaus scheint sie auch ein unsichtbares Band zu verbinden. So begegnen sich Nico und Ellen daraufhin immer wieder mehr oder weniger zufällig und teilen den ein oder anderen magischen Augenblick, bis die Schauspielerin nach einer gemeinsamen Silvesterfeier so schnell wieder aus Nicos Leben verschwindet, wie sie aufgetaucht war. Die eigentümliche und geheimnisvolle Bindung, die sie zu Ellen spürt, aber nicht begreifen kann, veranlasst Nico schließlich dazu, sich auf die Suche nach ihr zu machen. Dabei führen sie Ellens Spuren nicht nur auf eine Reise von Berlin über Brügge und Paris an die französische Küste, sondern auch zurück in ihre eigene Vergangenheit und so manchem bis dahin ungelösten Rätsel.
Es braucht nicht viele Seiten, um bereits die vielen Punkte zu erkennen, mit denen Raabes Roman glänzt. Vor allem sind es zunächst einmal die extrem plastische Figurenzeichnung allgemein und die beiden Protagonistinnen im Speziellen, aus deren Perspektiven die Geschichte abwechselnd erzählt wird. Man hat sie nach nur wenigen Zeilen direkt vor sich, fühlt sich ihnen nahe und fiebert unweigerlich mit ihnen mit. Und vielleicht liegt es auch daran, dass ich im gleichen Alter wie Nico und Ellen bin und das für diese Lebensphase so typische „Suchen und Finden“ gerade nur allzu gut kenne, jedenfalls konnte ich einige Gedankengänge und Gefühle der beiden sehr gut nachvollziehen und habe mich deshalb sehr gut aufgehoben gefühlt. Trotz allem entziehen sich die beiden Protagonistinnen ihren Leser*innen dennoch bis zu einem gewissen Grad und es umgibt sie bis zum Schluss eine geheimnisvolle Aura – was sie meiner Meinung nach jedoch umso faszinierender macht und auch wunderbar zur Geschichte passt. Die Nebenfiguren sind ebenfalls sehr lebendig geschildert, allen voran Anthony und Sali, die wir beide zwar nur kurz, aber dafür umso intensiver kennenlernen dürfen. Besonders Anthony wird mir wohl noch lange in Erinnerung bleiben, denn selten habe ich eine Nebenfigur in so kurzer Zeit ins Herz geschlossen und das wiederum hat mich Ellen noch näher gebracht.
Mindestens so eindrucksvoll wie seine Charaktere ist auch die Grundstimmung des Romans, die man tatsächlich nicht anders als magisch beschreiben kann und die von einem unglaublich atmosphärischen Schreibstil herrührt, der in Kombination mit der konstant spannenden Erzählweise einen Lesesog erzeugt, dem man sich nur schwer entziehen kann. So fliegt man wie bei einem echten Pageturner zwar nur so durch die Seiten, gleichzeitig möchte man immer wieder beim Lesen die Bremse ziehen, um so manche eindrucksvoll geschilderte Szene oder einige besonders bemerkenswerte Zitate vollends auskosten zu können. Die Kunst des Verschwindens lebt zudem von einer extrem bildhaften, fast schon cineastisch anmutenden Sprache, die vor allem die unterschiedlichen besonderen Schauplätze oft direkt vor den Augen der Leser*innen erscheinen lässt. Als große Musikliebhaberin wird mir so beispielsweise besonders eine Szene in Erinnerung bleiben, bei der Nico ein mehr als außergewöhnliches Konzert im Pariser Untergrund miterlebt:
Und in diesem Moment hebt das kleine Streichorchester an, und der schmale Mann mit dem blassen, markanten Gesicht und den verschiedenfarbigen Augen fängt an zu singen. Er singt von Schönheit und Tod, und die Violinen schwingen sich empor, und der Boden tut sich auf, doch wir fallen nicht. Und heiße Tränen laufen mir die Wangen hinab, und ich spüre es kaum; und Raum und Zeit existieren nicht mehr, und hier ist der Mittelpunkt des Universums, überall und genau hier. (S. 255)
Wie dem Textauszug bereits zu entnehmen ist, weist Melanie Raabes Roman teilweise nahezu märchenhafte, ja magische Elemente auf, was ihn mitunter auch etwas näher in den Genrebereich des Magischen Realismus rücken lässt. Dies geschieht allerdings in wohldosierten, absolut verdaulichen Häppchen, sodass sich diejenigen, die sich wie ich mit kleinen Abstechern ins Übersinnliche sonst vielleicht eher etwas schwerer tun, keine Sorgen machen müssen. Zumal Raabes als Roman gekennzeichnetem Werk trotz allem auf beinahe jeder Seite die schriftstellerischen Wurzeln der Autorin, die im Thriller-Genre liegen, doch deutlich anzumerken sind – und das ist gut so. Schon für ihre großartig konstruierten, sprachlich exzellenten Thriller habe ich die obendrein noch wirklich sympathische Autorin sehr bewundert und mit Die Kunst des Verschwindens hat sie mich nun noch ein Stück mehr begeistert: Auch in ihrer neuen Geschichte ist oft nichts, wie es zunächst scheint, und es erwartet einen ein geschickter Plottwist nach dem anderen, gleichzeitig wirkt sie noch literarischer und die leisen Töne sind sozusagen umso lauter, was mir unheimlich imponiert hat.
Apropos „leise Töne“: Wie schon anfangs erwähnt, widmet sich Melanie Raabe in Die Kunst des Verschwindens eher schweren und ernsten Themen. So geht es beispielsweise um den Sinn unseres Lebens, Selbstfindung, Schicksal, Krankheit, Trauer, Gewalt insbesondere an Frauen, Stalking oder Hetze in den sozialen Medien, während aber auch die schöneren Dinge des Lebens wie zum Beispiel Freundschaft, Verbundenheit, Freiheit, Menschlichkeit und Alltagsmagie eine große Rolle in dem Roman spielen. Bei diesem Themenpool wundert es nicht, dass sich das Buch irgendwie leicht und manchmal schwer zugleich anfühlt, doch die Tendenz geht ganz klar zu Ersterem: Trotz der oft ernsten Thematik strahlt Die Kunst des Verschwindens mit seiner zuversichtlichen Botschaft eine fühlbare Wärme und einen noch größeren Optimismus aus. Und das ist vielleicht das Allerschönste an dieser außergewöhnlichen, herzerwärmenden Geschichte, mit der Melanie Raabe tatsächlich ein kleiner großer Zaubertrick gelungen ist. „Call it magic, call it true.”
Werbung – Vielen Dank an dieser Stelle an btb und Melanie Raabe für das Leseexemplar und die Möglichkeit, dieses Buch besprechen zu dürfen.
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