Rezension: “Eigentum” von Wolf Haas

Lebenserinnerungen voller Humor und Sprachkunst

Bei unserem ersten Aufeinandertreffen vor mittlerweile mehr als 13 Jahren war das mit Wolf Haas und mir nicht gerade Liebe auf den ersten Blick bzw. aufs erste Wort. Mit dem Krimi, mit dem die damalige Deutschlehrerin uns nach den Abiturprüfungen noch begeistern wollte, und vor allem mit dessen speziellem Humor konnte ich damals nicht viel anfangen. Etliche Jahre und ein Literaturstudium später gab ich Privatdetektiv Simon Brenner nach der Lektüre von Wolf Haas’ Roman Junger Mann, der mir ausgesprochen gut gefallen hat, noch eine zweite Chance und bin seitdem eine große Liebhaberin von der Sprachkunst und dem besonderen Humor des österreichischen Autors. Deshalb war die Freude auch riesig, als mir der Hanser Verlag überraschend Wolf Haas neuestes Werk Eigentum zuschickte.

Zunächst konnte ich mir zwar weder anhand des „Klappentextes“ – es handelt sich hier vielmehr um sehr kurze Passagen aus dem Werk – noch anhand der Optik des Buches so richtig einen Reim darauf machen, um was es in Eigentum gehen soll, doch schon nach wenigen Seiten wurde klar, wie genial gut die schlichte Buchgestaltung zum Inhalt des Romans passt: Wolf Haas erzählt hier die Lebensgeschichte seiner Mutter Marianne Haas (und nebenbei auch teilweise seine eigene), die, stark geprägt von den Nachwirkungen der Hyperinflation in ihrem Geburtsjahr 1923, Zeit ihres fortwährend entbehrungsreichen Lebens einem einzigen Bestreben wie eine Besessene nacheifert, nämlich dem Erwerb von Eigentum. Doch allem „Sparen, Sparen, Sparen“ und „Arbeiten, Arbeiten, Arbeiten“ zum Trotz wird es für Haas’ Mutter nie für eine Eigentumswohnung geschweige denn für ein eigenes Haus reichen, sondern am Ende lediglich für ihr Grab, das schließlich das einzige Eigentum von Marianne Haas jemals sein wird.

Die Behauptung seiner 95-jährigen im Altersheim im Sterben liegenden Mutter, es ginge ihr gut, obwohl sie ihrem Sohn gegenüber ihr ganzes Leben lang mit sich ständig wiederholenden Geschichten das Gegenteil beteuerte, veranlasst ihn letztendlich kurz vor deren Tod dazu, all diese Erzählungen und Erinnerungen festzuhalten und das Leben seiner Mutter niederzuschreiben – oder wie Haas es bezeichnet: „[…] ihr Leben nachstricken“ (S. 9). So fanatisch Marianne Haas ihren Lebenstraum „Eigentum“ verfolgt, so übereifrig, ja fast schon manisch, „aus einem inneren Zwang heraus“ (S. 9) kommt Wolf Haas nun „[s]einer verantwortungsvollen Tätigkeit als Lagerist und Gabelstaplerfahrer für die Erinnerungen [s]einer Mutter“ (S. 39) nach und als Leser:in wird man von dem Erinnerungssog unmittelbar mitgezogen, den der Autor innerhalb weniger Seiten mittels ständig wechselnder Erzählungsfragmente und Erinnerungsbruchstücke – sowohl eigener als auch von seiner Mutter – und Sprüngen zwischen Vergangenheit und Gegenwart (und teils sogar der Zukunft) aufbaut. „Ich hatte Angst davor, dass jetzt, wenn meine Mutter bald tot wäre, ihre Erinnerungen meinen Kopf komplett übernehmen würden. Im Überlebenskampf werden Erinnerungen mein Hirn kapern und sich dort breitmachen und einnisten.“ schreibt Haas auf Seite 39 und auf Seite 84 „In meinem Hirn sind die Erinnerungen meiner Mutter abgespeichert, die bei ihr nicht mehr besonders deutlich vorhanden sind. Mit einem unsichtbaren Durchschlagpapier haben ihre Erinnerungen sich auf mein Hirn durchgedrückt. Irgendwas daran ärgert mich. Bin ich auf die Welt gekommen, um die externe Festplatte meiner Mutter zu sein?“. Nicht nur bei diesen beiden Textstellen bekommt man als Leser:in das Gefühl, der Autor unternehme hier den beinahe verzweifelten Versuch, sich all die Erinnerungen, die seine Mutter (mit) ihm (mit-)geteilt hat, sprichwörtlich von der Seele zu schreiben. 

Gleichzeitig wird mit der Zeit immer deutlicher, dass Wolf Haas hier auch einen Wettlauf mit dem Tod eingeht, den er letztendlich zwar freilich verliert, der jedoch parallel auch eine Verarbeitungsmöglichkeit des Sterbeprozesses und des Todes seiner Mutter bietet. Nicht zuletzt beantwortet der Autor mit diesem Roman auch ganz eindrücklich die von ihm selbst für eine Poetikvorlesung, die er eigentlich vorbereiten sollte, während er die letzten Tage mit seiner Mutter verbringt, aufgestellte Frage, ob man vom Leben schreiben kann (S. 39), mit einem ganz klaren Ja, indem er Marianne Haas mit Eigentum ein literarisches Denkmal setzt.

Dies tut Wolf Haas wiederum auf eine für ihn überraschend feinfühlige, durchaus liebevolle Art und man spürt als Leser:in auf jeder Seite die Anerkennung und Zuneigung eines Sohnes für eine Frau und Mutter, die eigensinnig war und es ihren Mitmenschen nicht leicht machte, sie zu mögen, es aber eben auch selbst nie leicht in ihrem Leben hatte. Wer vor diesem Hintergrund nun Bedenken hat, Haas’ typisch lakonischer Stil bliebe deshalb auf der Strecke, der/die sei jedoch beruhigt: Trotz der ernsten und bisweilen durchaus traurigen oder ernüchternden Thematik kommen Haas’ besonderer, teils sehr schwarzer Humor und sein Spaß am Spiel mit Sprache und Ironie nicht zu kurz, im Gegenteil: Selten habe ich beim Lesen so oft laut aufgelacht und so habe ich mehr Tränen beim Lachen vergossen als aufgrund des anrührenden Inhalts, was aber natürlich auch vorkam. Dennoch übertritt Haas zu keinem Zeitpunkt die Grenzen der Komik bzw. des guten Geschmacks und bleibt auch in Momenten, in denen er seine sarkastische Ader durchscheinen lässt, respektvoll und versöhnlich und scheut dabei auch nicht vor Selbstironie zurück:

Der Ausweg aus allen Lebenslagen, der Pfad des Heils, der Notausgang aus allen Kriegsschauplätzen trug für mich immer diesen Namen: Weg der Besserung. Als Kind war es mein größter Trumpf. Um nicht jedes Mal wegen nichts zum Pflegefall erklärt zu werden, immer sofort sagen: Bin schon auf dem Weg der Besserung. Selbst mit Lungenentzündung, mit dem eingeschlagenen Schädel, selbst während man noch mit abstehenden Knochen in die Wohnung getragen wurde, verzichtete ich nie auf diesen Segensspruch: Bin schon auf dem Weg der Besserung. Und ehe ichs vergesse, möchte ich die Worte auch als meine künftige Grabinschrift festlegen: BIN SCHON AUF DEM WEG DER BESSERUNG (S. 13)

Diese Gratwanderung zwischen Emotionalität, ohne je zu sentimental zu werden, und Komik, ohne mit dem Zynismus zu dick aufzutragen, meistert Wolf Haas in Eigentum mit Bravour. Mindestens so viel, wenn nicht sogar noch ein bisschen mehr Freude bereitete mir nur noch seine Sprachkunst, die der Autor in diesem Roman mit herrlichen Wortspielen, brillanten, bisweilen beinahe philosophisch anmutenden Sprach-/Gedankenexperimenten und einmaligen, starken Bildern vorführt und dabei vom Stilmittel der Wiederholung, die in der (Lebens-)Geschichte von Marianne Haas und ihrem Sohn so eine große Rolle spielt, auf fast schon eine ingeniöse Weise Gebrauch macht. Beispielhaft gerne drei der vielen zitierwürdigen Stellen, die ich mir in diesem Zusammenhang markiert habe:

Allerdings kam es mir weniger schlimm vor, als ‚Seiten‘ aufgezogen zu kriegen, deren Drohpotenzial etwas Abstrakt-Allgemeines hatten, etwas Existenzielles, die Koordinaten des Daseins, die sich ändern würden, links, recht, oben, unten, alles nicht mehr dasselbe, andere Seiten, während die etwas schärfere Besaitung eines Musikinstruments doch immer noch im Rahmen blieb. (S. 103)

Wie in der Sonne schmelzendes Baiser sanken sie in ihren weißen Schleiern zu Boden und wurden in einer Brautkleidlawine begraben. (S. 134)

Vielleicht stimmte auch diese Geschichte nicht. Das hoffe ich, damit ich nicht selbst wie eine hysterische Braut zusammenfalle in meinen Schleiern der Erinnerung. (S. 138)

Mit seinem neuesten Werk hat Wolf Haas seiner Mutter ein Andenken in Form eines Buches gesetzt, das er zwar als sein Eigentum betitelt, aber das bedingt durch dessen Inhalt eben auch ihr gehört: Eigentum ist das Vermächtnis von Marianne Haas, von ihrem Sohn voller Zuneigung und liebevollem Witz verfasst. Es ist ein sehr persönliches Buch über das Sterben, den Tod sowie das Erinnern und gleichzeitig eine Hommage an starke Frauen der Kriegsgeneration wie seine eigene Mutter. Es ist vielleicht thematisch und stilistisch für besonders sensible Lesegemüter nicht unbedingt geeignet, aber Fans von Wolf Haas, solchen, die es noch werden wollen, und ganz besonders allen Liebhaber:innen von exzellenter Sprachkunst ausnahmslos zu empfehlen.

Werbung – Vielen Dank an dieser Stelle an die Hanser Literaturverlage für das Zusenden des Leseexemplars und die Möglichkeit, dieses Buch besprechen zu dürfen.

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