Rezension: “Lichte Tage” von Sarah Winman

Von großen Lieben und verpassten Chancen

Als ich das erste Mal von Lichte Tage hörte, das Cover sah und den Klappentext las, war ich fest davon überzeugt, dass Sarah Winmans Roman ganz und gar meinen Lesegeschmack treffen würde, dreht er sich doch um einige Themen, die immer wieder in der ein oder anderen Form in meiner bevorzugten Buchauswahl auftauchen und sich so nicht selten als Grundzutaten für eine mitreißende Lektüre erweisen: Melancholie, Poesie, Identitätssuche, Coming of Age, Sehnsucht, Einsamkeit, Melancholie, Kunstliebe, Trauer und Verlust. Obendrauf spielt Winmans Erzählung hauptsächlich in Oxford und London und Vincent van Goghs Kunst – und hier besonders eines seiner berühmten Sonnenblumen-Werke – spielt hier eine tragende Rolle. Es hätte also so schön sein können, aber leider wurde Winmans vielversprechender Roman meinen hohen Erwartungen bzw. großen Hoffnungen nicht ganz gerecht. 

Auch für Winmans beide Protagonisten Ellis und Michael (und auch so manch andere Figur in dem Roman) hätte möglicherweise alles so schön sein können, wären da nicht gewisse Ängste und vermeintliche Pflichten, die gesellschaftlichen Konventionen jener Zeit sowie andere scheinbar unüberwindbare Hürden: Als Zwölfjährige treffen Ellis und Michael zum ersten Mal aufeinander, sind fortan unzertrennlich, werden Seite an Seite erwachsen und entwickeln indessen immer stärkere Gefühle füreinander, die bis zu einer gemeinsamen schicksalhaften Reise nach Südfrankreich – und auch danach wieder – unausgesprochen bleiben. Zurück im grauen Oxford wird aus dem Duo bald ein wie es scheint untrennbares Trio, als Ellis Annie kennenlernt und heiratet. Doch schließlich zieht es Michael über kurz oder lang nach London, der Kontakt bricht ab und die Freundschaftsbande werden lockerer und lockerer und drohen bald gar zu reißen. Etliche Jahre später ist es schließlich der zurückgelassene und zurückgezogen lebende Ellis, der sich nach dem Verlust seiner beiden großen Lieben Annie und Michael anhand eigener Erinnerungen sowie mittels Tagebucheinträgen seines Freundes auf eine Reise in die Vergangenheit begibt, auf der Suche nach Antworten, etwas Trost und einer Versöhnung nicht nur mit sich selbst und den eigenen Entscheidungen, sondern auch mit denen anderer.

Der Roman ist fast genau in zwei Hälften geteilt: Teil 1 wird aus Ellis’ Perspektive erzählt, Michaels Tagebucheinträge bilden Teil 2, wobei die Erzählung in beiden Teilen immer wieder teilweise übergangslos zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit hin und her springt und so mehrere Jahrzehnte von den 1950er bis in die 90er abdeckt. Und so kunstvoll diese Zeitsprünge bisweilen von Winman in die Erzählung eingewoben sein mögen, so abrupt wirkten sie des Öfteren auf mich als Leserin: Nicht nur einmal war ich für einen kurzen Moment verwirrt und konnte der Handlung vorübergehend nicht ganz folgen – ein Umstand, der den Lesefluss leider doch merklich störte. So fiel es mir auch noch nach knapp 100 Seiten schwer, in die Geschichte im Allgemeinen hineinzufinden und mich in die Figuren im Besonderen einzufinden. Der Wechsel von Ellis’ zu Michaels Perspektive kam für mich dann gerade noch rechtzeitig und da hier so manche bereits aus Teil 1 bekannte Handlungsstränge nochmals aus der anderen Sicht geschildert werden, fiel es mir nun wesentlich leichter, zu folgen. Überhaupt war Michaels Part für mich nicht nur intensiver, sondern auch zugänglicher und damit zugleich emotionaler, was aber sicherlich mitunter auch den hier zentralen Themen (AIDS-Krise, Krankheit, Tod und Trauer) geschuldet sein könnte. In jedem Fall empfiehlt es sich gerade wegen der vielen Zeitsprünge, Lichte Tage möglichst an einem Stück zu lesen, was bei der überschaubaren Seitenanzahl von knapp über 230 Seiten für Viel- und Schnelleser*innen (zu denen meine Wenigkeit bedauerlicherweise nicht zählt) eigentlich kein Problem darstellen sollte.

Und auch wenn aufgrund seiner Kürze das ein oder andere in Lichte Tage manchmal lediglich zwischen den Zeilen angedeutet bleibt und man sich als Leser*in deshalb Einiges selbst erschließen muss, ist es dennoch erstaunlich, wie viele bedeutende Themen Sarah Winman trotz allem in ihren Roman packen und vor allem mit was für einer großen Sprachkunst und Poetik die Autorin sich mit diesen hier auseinandersetzt – passend zum Kunstthema (an dieser Stelle sei auch einmal die unfassbar schöne optische und auch haptische Covergestaltung des Buches erwähnt!) eine spannende Kombination aus leisen und zarten Tönen mit oft leuchtenden, eindrücklichen und stimmungsvollen Bildern, wie hier zum Beispiel: 

So hatte er die Welt erlebt, zwischen dem Moment, in dem es passierte, und dem Moment, in dem er es erfuhr. Ein kleines Fenster, noch nicht in Scherben, als Musik noch Gefühle auslöste, als Bier noch schmeckte, als Träume noch aus dem Anblick eines Flugzeugs am Sommerhimmel geboren werden konnten. (S.112)

Ich fragte mich, wie es wohl klingt, wenn ein Herz bricht. Ich glaube, es wäre leise, kaum wahrnehmbar, und gänzlich unspektakulär – wie eine erschöpfte Schwalbe, die sanft zu Boden fällt. (S.194)

Wir teilten uns eine Zigarette, und zwischen uns erstreckte sich eine Landschaft, übersät mit den verknöcherten Überresten gescheiterter Pläne, von denen nur wir einst wussten. (S.217)

Besonders die Passagen, die in Südfrankreich spielen, bleiben in Erinnerung: Als Leser*in hat man hier das Gefühl, die warmen Sonnenstrahlen wie Ellis und Michael auf der Haut spüren, das sachte Rascheln der Sonnenblumen im lauen Wind hören und das Meersalz schmecken zu können. Mit diesem atmosphärischen Stil und Teilen seiner Handlung hat mich Lichte Tage gerade an diesen Textstellen merklich an Call Me By Your Name von André Aciman erinnert, genauso wie mir die allgemeine Thematik und das Erzählen der Handlung über mehrere Jahrzehnte in Winmans Roman an The Heart’s Invisible Furies von John Boyne in Erinnerung rief – zwei Werke, die mich einst sehr begeistert haben. Und trotz dieser auffallenden Parallelen schlägt Winman in Lichte Tage auch eine völlig andere Richtung ein, geht neue Wege, die einerseits viel Schönes am Wegesrand zu bieten haben, andererseits aber auch teilweise etwas in die Irre führen, weswegen mich die Autorin auf halber Strecke auch, wie erwähnt, fast verloren hätte.

Glücklicherweise ist dann jedoch Michael stärker ins Bild gerückt – die Figur, zu der ich noch am meisten Zugang finden konnte (was vielleicht auch mitunter an der Ich-Perspektive liegen könnte) und mit dem ich gerne noch mehr Zeit verbracht hätte. Ellis hingegen blieb für mich bis zum Schluss ziemlich unnahbar, auch wenn ich seine Situation als verlassener, zurückgezogen lebender Witwer in seinen Vierzigern von Sarah Winman als gekonnt skizziert empfand. Neben Ellis und Michael spielen außerdem noch Annie und und Ellis’ Mutter Dora zwar eine nicht unbedeutende Rolle in der Geschichte, doch bleiben sie für die Leser*innen blass, weil man insgesamt viel zu wenig über diese beiden Frauen erfährt, obwohl die Anlagen hierfür sicherlich gegeben wären. Gleiches gilt für einige der vielen Themen, die in Lichte Tage angeschnitten, aber nicht immer in Gänze ausgeführt werden, wie zum Beispiel Doras Wunsch nach Selbstverwirklichung und danach, ihren Träumen nachzuspüren – den sie aber immerhin ihrem Sohn übertragen hat, der ihn wiederum ebenfalls nicht konsequent durchzieht.

Überhaupt geht es in dem Roman viel um verpasste Chancen und Entscheidungen oder Handlungen, die im Nachhinein bereut werden bzw. mit denen man letztendlich irgendwie leben muss. Nicht nur deswegen schwingt generell viel Melancholie und Nostalgie in Winmans Geschichte mit, sondern natürlich auch wegen der hier intensiv behandelten Themen Trauer und Verlust. Gerade vor diesem Hintergrund ist es umso erstaunlicher, dass man Lichte Tage nicht per se als traurigen Roman liest bzw. wahrnimmt, sondern vielmehr als ein warmes, tröstendes Buch, ganz dem positiv behafteten Titel und dem heiteren Cover entsprechend. Und das ist der für mich wohl schönste Aspekt an Winmans Roman, wenngleich er mich letzten Endes nicht vollends überzeugen konnte. Ich denke, etwa hundert Seiten mehr hätten ihm noch gut getan, dann hätte er eventuell zumindest für mich insgesamt besser funktioniert. In seiner nun schlanken Form empfiehlt es sich wohl auf jeden Fall, den Roman wenn möglich an einem Stück zu lesen, dann klappt die kleine Zeitreise mit Ellis und Michael bestimmt etwas besser.

Werbung – Vielen Dank an dieser Stelle an den Klett-Cotta Verlag für das Leseexemplar und die Möglichkeit, dieses Buch besprechen zu dürfen.

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