Rezension: “The Heart’s Invisible Furies” von John Boyne

Extrem erschütternd und unglaublich humorvoll – Eine tragikomische irische Lebensgeschichte

In meinen Rezensionen zu The Boy in the Striped Pyjamas und Stay Where You Are and then Leave dürfte meine Begeisterung für John Boynes Werke und vor allem sein Erzähltalent bereits deutlich durchgeklungen sein. Ich finde es zutiefst bewundernswert, wie der irische Autor es immer wieder schafft, außergewöhnliche Geschichten auf so eine eindrucksvolle Weise zu erzählen, dass der Leser bewegt und zum Nachdenken angeregt wird. Dennoch hätte ich nicht geglaubt, dass Boyne noch einmal einen ähnlich berührenden Roman wie The Absolutist schreiben könnte – mit seinem neuesten Werk The Heart’s Invisible Furies hat er es aber tatsächlich ganz knapp geschafft. Da sein humorvoller Schreibstil die Dramatik der Geschichte jedoch ein klein wenig abdämpft, hat mir John Boyne mit dem vorliegenden Roman nicht derart das Herz gebrochen, wie er es mit The Absolutist getan hat – und das ist eigentlich auch ganz gut so.

Wie aus meinen vorherigen Rezensionen und Anmerkungen zu Büchern von John Boyne bereits herauszulesen ist, nimmt sich dieser Autor stets sehr gewichtige Themen vor, mit denen er sich in seinen Werken intensiv auseinandersetzt und die er – selbst in seinen Jugendbüchern – nachdrücklich und teilweise auch schonungslos direkt darlegt. Das gilt auch wieder genauso für The Heart’s Invisible Furies, in dem Boyne eine große Bandbreite an Themen wie beispielsweise Identitätsfindung, (sexuelle) Selbstbestimmung, Intoleranz, Homophobie, und Sexismus mit wahren historischen, politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Begebenheiten umrahmt.

Der Autor erzählt hier die Lebensgeschichte eines eigentlich gewöhnlichen Mannes aus Dublin, der jedoch wegen seiner sexuellen Orientierung kein gewöhnliches Leben führen kann. Alles beginnt im Jahre 1945 in einem kleinen Dorf im tiefsten Süden Irlands, in dem die 16-jährige Catherine Goggin vom autoritären Dorfpfarrer während des Gottesdienstes denunziert und der Pfarrgemeinde verwiesen wird, weil sie ein uneheliches Kind erwartet. Die resolute und findige junge Frau macht sich daraufhin auf den Weg nach Dublin, wo sie sich zwar eine Existenz aufbauen kann, ihren Sohn allerdings zur Adoption freigeben muss. So wächst dieser als Cyril Avery bei einem wohlhabenden, aber exzentrischen Ehepaar auf: Charles, ein Frauenheld mit kriminellen Tendenzen, und Maude, eine arbeitsbesessene und kettenrauchende Schriftstellerin, überhäufen ihren Adoptivsohn jedoch nicht gerade mit Liebe und lassen ihn stets wissen, dass er „kein echter Avery“ ist. Mit sieben Jahren lernt Cyril schließlich den gleichaltrigen, überaus charismatischen Julian Woodbead kennen, der in seinem Leben von nun an eine besondere Rolle spielen wird. Schon früh erkennt Cyril, dass er sich stärker zu Männern hingezogen fühlt, doch da dies zu jener Zeit im erzkatholischen und konservativen Irland noch als eine Krankheit und ein Verbrechen gilt, lernt er bald, ein Leben im Verborgenen zu führen und seine Sehnsüchte und Gefühle am besten zu unterdrücken. Mit gesellschaftlichen Normen und Zwängen konfrontiert und von Selbstzweifeln, Schamgefühlen und Ängsten geplagt, katapultiert sich Cyril auf der Suche nach sich selbst und einem Platz in der Gesellschaft schließlich von einer missverständlichen Lage in die nächste und begeht einige Fehler, die weitreichende Folgen haben. So begleiten wir Cyril Avery über insgesamt sieben Jahrzehnte, jeweils aufgeteilt in 7-Jahres-Schritten, durch die höchsten Höhen und tiefsten Tiefen seines Lebens und lachen und weinen mit ihm, während er versucht, mit sich selbst und seinem Handeln, aber auch mit seiner Heimat Irland ins Reine zu kommen.

Anhand der Entwicklungsgeschichte Cyrils zeigt John Boyne hier auch die Geschichte Irlands von den 1940ern bis heute und dokumentiert gleichzeitig auch gewissermaßen die globalen gesellschaftlichen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts. So führt Boynes Erzählung von einem beinahe theokratischen Irland in der Nachkriegszeit in die vom IRA-Terrorismus geprägten 60er und 70er in Dublin, daraufhin ins deutlich liberalere Amsterdam der 80er, schließlich nach New York während der AIDS-Krise und am Ende wieder in ein moderneres Irland, in dem die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe kurz bevorsteht. Dabei legt der Autor auch einen großen Fokus auf die lange und beschwerliche Geschichte der LGBT-Rechte und zeigt eindrücklich auf, welche Schwierigkeiten es mit sich brachte (bzw. wohl oft noch immer bringt), in einer intoleranten Gesellschaft aus der Reihe zu tanzen, sprich von der dort geltenden üblichen Norm in welcher Art und bis zu welchem Grad auch immer abzuweichen. In diesem Kontext veranschaulicht John Boyne auch, wie sowohl innere als auch nicht beeinflussbare äußere Umstände unser Leben einschneidend prägen und was für eine großen Wirkung vor allem Politik und Religion und damit einhergehende Vorurteile und Wertvorstellungen auf eine Einzelperson ausüben können.

Trotz all dieser gravierenden Thematiken, der ganzen Grausamkeiten und der generellen Dramatik der Handlung wirkt der Roman überraschend leicht und lässt sich erstaunlich locker und flüssig lesen. Das liegt vor allem an der humorvollen Erzählweise Boynes und der gehörigen Prise Sarkasmus, mit der er die gesamte Geschichte durchsetzt hat. Gerade auch die Dialoge, die eigentlich das Herzstück des Romans bilden und mit denen dieser wahrlich glänzt, sind ausgesprochen lebendig gestaltet und oftmals zum Schreien komisch. Zur Veranschaulichung hier zwei herrliche Beispiele:

’What’s a pervert?’ I asked. ‘It’s someone who’s a sex maniac,’ he explained. ‘Oh.’ ‘I’m going to be a pervert when I grow up,’ he continued. ‘So am I,’ I said, eager to please. ‘Perhaps we could be perverts together.’ Even as the words came out of my mouth I could tell there was something not quite right about them and the expression on his face, one of disdain combined with mistrust, embarrassed me. ‘I don’t think so,’ he said quickly. ‘That’s not how it works at all. Boys can only be perverts with girls.’ ‘Oh,’ I said, disappointed. (S. 70)

’Sarah-Anne has fallen,’ she said. ‘Fallen?’ ‘Fallen,’ she confirmed, nodding her head. ‘Did she hurt herself?’ ‘What?’ ‘When she fell? Did she break something? Was someone not there to help her up?’ She looked at me as if I had gone mad. ‘Are you trying to be funny, Cyril?’ she asked. ‘No,’ I said, baffled. ‘I just don’t know what you mean, that’s all.’ ‘She’s fallen!’ ‘Yes, you said, but –‘ ‘Oh, for pity’s sake,’ she hissed. ‘She’s going to have a baby.’ ‘A baby?’ ‘Yes. Five months from now. ‘Oh, is that all?’ I asked, returning to my lasagne. (S. 237)

Somit weint man oft Tränen vor Lachen an Stellen, an denen eigentlich eher Tränen aus Trauer oder Ärger angebracht wären. Aber genau das ist auch die besondere Qualität des Romans: Der Humor balanciert den Schrecken aus und Boyne verweilt selten an besonders quälenden Stellen, weshalb sein Roman auch nie ermüdend oder gar belehrend wirkt. Abgesehen davon erstarren auch Boynes Charaktere nicht angesichts all der Widrigkeiten, die ihnen widerfahren, sondern kämpfen immer weiter – und gerade die Stärke einiger Romanfiguren ist nicht nur beachtens-, sondern vor allem nachahmenswert. Überhaupt hat der Autor hier einige einmalige und überaus lebendige Charaktere geschaffen, die dem Leser noch lange in Erinnerung bleiben. Gerade mit Cyril Avery hat Boyne einen Helden voller Makel, mit dem man trotz aller Fehler – und das sind in der Tat nicht wenige und erst recht keine kleinen – mitfühlt und -leidet, grandios herausgearbeitet. Neben Cyril stechen außerdem seine etwas bizarren Adoptiveltern Charles und Maude, seine „versehentliche“ Freundin und fast-Verlobte Mary-Margaret Muffet sowie Julians Schwester Alice sehr positiv hervor, wobei Boyne im Grunde sämtliche Charaktere mit einer spürbaren Warmherzigkeit und deutlichen Liebe fürs Detail beschreibt. Und das Schöne ist tatsächlich, dass keine einzige Figur perfekt ist, weil sie alle Fehler machen, die man ihnen als Leser jedoch vergibt, weil sie nur allzu menschlich sind. Der folgende kurze Absatz aus dem letzten Teil des Romans verdeutlicht diesen Punkt meiner Meinung nach sehr gut:

„Maybe there were no villains in my mother’s story at all. Just men and women, trying to do their best by each other. And failing.” (S. 566)

The Heart’s Invisible Furies ist ein Buch, das vor Leben in all seinen chaotischen Facetten nur so strotzt und dadurch mit allem aufwartet: Freude und Traurigkeit, Leid und Schmerz, Verlust und Neuanfang, Freundschaft und Liebe sowie auch Vergebung und Frieden. Im Hinblick auf dieses Emotions- und Themenspektrum, aber auch vor allem wegen des Protagonisten, der versucht, mit seiner Identität klarzukommen und dafür einen langen Leidensweg gehen muss, erinnert Boynes Roman ein bisschen an Hanya Yanagiharas Ein wenig Leben. Und doch sind die beiden Romane (erfreulicherweise) sehr verschieden: Während es Boyne mühelos gelingt, seine Geschichte historisch und zeitlich korrekt zu verorten, wirkt Yanagiharas Werk fast losgelöst von Zeit und Raum, weil die Autorin auf keine historischen Begebenheiten eingeht. Yanagiharas Darstellung von Leid und Grausamkeit geht überdies viel weiter und wirkt zudem fast überspitzt, wohingegen Boyne die Dramatik mit Humor abmindert. Dadurch entsteht bei der Lektüre von The Heart’s Invisible Furies ein deutlich angenehmeres Lesegefühl, weil es dem Autor hier meisterhaft gelingt, eine ernste Geschichte auf eine bemerkenswert lockere und unterhaltsame Weise zu erzählen.

Boyne liefert seinen Lesern mit seinem neuesten Werk somit eine unglaublich humorvolle, aber auch extrem erschütternde Geschichte mit viel Herz und garantiert damit eine kurzweilige und fesselnde Lektüre. Es ist schlichtweg beeindruckend, wie es dem Autor hier gelingt, mühelose Komik mit tiefempfundenem Schmerz und aufrichtiger Wut zu einer zutiefst emotionalen Erzählung zu verweben, die den Leser trotz aller Dramatik nicht entmutigt zurücklässt. Einzig am Schluss hat John Boyne – zumindest für meinen Geschmack – erneut ein bisschen zu tief in die Kitschkiste gegriffen, jedoch kann man im Hinblick auf die bis zum Ende stringent durchgehaltene ausdrucksstarke und lebhafte Erzählweise sowie den einfach hervorragenden Dialogen darüber hinwegsehen. Mit seinen knapp 600 Seiten ist The Heart’s Invisible Furies zwar eine Hausnummer, doch sollte die Seitenanzahl keineswegs abschrecken, denn dank Boynes lockeren Schreibstils und der durchweg spannenden Geschichte hat man im Nu die nächsten fünfzig Seiten gelesen. Und die Lektüre lohnt sich wirklich, denn dieser Roman geht unter die Haut und direkt ins Herz: Er muss gelesen, gefühlt und reflektiert werden – was braucht es für eine grandiose Lektüre also noch mehr?

Was war das letzte Buch, das euch so richtig mitgerissen hat?

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