Rezension: “Stay Where You Are and then Leave” von John Boyne
Ein Junge macht sich auf, seinen Vater nach Hause zu holen
Es ist noch gar nicht lange her, da erschien erst die deutsche Übersetzung von John Boynes Roman The Boy at the Top of the Mountain. Besagtes Buch habe ich zwar noch nicht gelesen (obwohl es auch schon länger auf meiner Leseliste steht), dafür habe ich mittlerweile Stay Where You Are and then Leave, welches auch schon eine Weile auf meinem Lesestapel lag, endlich beendet. Ich glaube, dieses Buch könnte auch für all diejenigen interessant sein, denen The Boy at the Top of the Mountain und The Boy in the Striped Pyjamas (meine Rezension zum Buch findet ihr hier) gefallen haben. Und auch dieses Buch hätte im Titel wieder mit „The Boy…“ anfangen können, da auch hier wieder ein kleiner Junge im Mittelpunkt der Geschichte steht, allerdings spielt Stay Where You Are and then Leave nicht wie die anderen beiden Bücher während des Zweiten, sondern während des Ersten Weltkriegs.
Seit Jahren setze ich mich vor allem literarisch immer wieder mit dem Thema „Erster Weltkrieg“ auseinander. In dieser Zeit bin ich schon Texten in verschiedensten Formen begegnet: Biografien, Tagebucheinträge, Romane, Sachbücher, Gedichte, Briefe und so weiter. Ein Jugendbuch war auf jeden Fall noch nicht dabei und ich kann mich auch an keinen Text erinnern, der aus der Sicht eines Kindes geschrieben war. Somit bedient Boyne in seinem Roman also eine Perspektive, die in diesem Zusammenhang kaum bis gar nicht beachtet wird, und deshalb war es für mich auch eine interessante Leseerfahrung, die Geschehnisse, über die ich schon so viel gelesen habe, aus einem völlig neuen Blickwinkel zu betrachten.
Im Alter von fünf Jahren endet Alfie Summerfields unbeschwerte Kindheit abrupt. Hatte er bis dahin ein glückliches Leben zusammen mit seiner Familie und Freunden in der Damley Road in London geführt und den bescheidenen Traum gehabt, eines Tages alt genug zu sein, um gemeinsam mit seinem Vater Georgie Milch auszuliefern, ändert sich am 28. Juli 1914 plötzlich alles: Gerade noch hatte Alfie seinen fünften Geburtstag gefeiert, da meldet sich sein Vater am nächsten Tag als Kriegsfreiwilliger. Und obwohl ihm jeder sagt, dass der Krieg bis Weihnachten zu Ende sei, wartet Alfie vier lange Jahre vergeblich auf die Rückkehr seines Vaters. Anfangs waren noch regelmäßig Briefe von Georgie eingetroffen, doch als schließlich keine mehr ankommen und Alfies Mutter Margie ihm dies mit der Begründung zu erklären versucht, sein Vater sei auf einer geheimen Mission, befürchtet Alfie, dass er in Wirklichkeit schon längst im Krieg gefallen ist. Bei seiner Arbeit als Schuhputzer am Bahnhof King’s Cross erhält er jedoch zufällig einen Hinweis auf das Schicksal seines Vaters und auch darauf, dass er noch am Leben sein könnte. Daraufhin fasst Alfie mit gerade einmal neun Jahren den mutigen Entschluss, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen und seinen Vater eigenhändig nach Hause zu holen, damit alles wieder so ist, wie es vor dem Krieg war. Doch auf die Abenteuer, die Alfie dabei erlebt, und die Dinge, mit denen er auf einmal konfrontiert wird, ist der Junge nicht unbedingt vorbereitet…
In vielerlei Hinsicht hat mich die Geschichte in Stay Where You Are and then Leave zunächst stark an jene in The Boy in the Striped Pyjamas erinnert. Immerhin sind die Romane ähnlich aufgebaut, beide Protagonisten sind in einem ähnlichen Alter, beide werden mit einer ihnen unbekannten Situation konfrontiert und müssen sich arrangieren. Außerdem ist die Vater-Sohn-Beziehung ein essentielles Element in beiden Romanen und die Eltern/Erwachsenen versuchen jeweils, die Wahrheit von ihren Kindern so gut es geht fernzuhalten. Dennoch scheint Alfie, auch wenn er natürlich ebenfalls seine kleinen, naiven Momente hat, nicht ganz so auf den Kopf gefallen und leichtgläubig wie Bruno in The Boy in the Striped Pyjamas: Während dieser tatsächlich keinen Schimmer davon zu haben scheint, was um ihn vor sich geht, und wenig hinterfragt, versteht Alfie das Geschehen viel besser und ist sich dessen Ausmaß viel mehr bewusst – oder zumindest soweit, wie es eben für ein Kind möglich ist. Dadurch wirkt er viel selbstbestimmter sowie willensstärker und damit letztendlich auch zu einem gewissen Grad glaubwürdiger. Vor diesem Hintergrund muss ich also sagen, dass mir Alfie von Anfang an sofort sympathischer war als Bruno und es auf mich auch den Anschein hatte, als ob die Charaktere – und natürlich vor allem Alfie – in Stay Where You Are and then Leave einen Hauch liebevoller gestaltet seien.
Aber auch ähnlich wie in The Boy in the Striped Pyjamas lebt dieser Roman von den ungesagten bzw. implizierten Dingen und dem (Un-)Wissen des Lesers. Auch wenn der Schrecken des Krieges und seine Auswirkungen auf die Menschen hier etwas expliziter thematisiert werden, beispielsweise in den Szenen in der Klinik für Kriegstraumatisierte oder in Georgies Briefen von der Front, wird Vieles lediglich angedeutet und nicht weiter ausgeführt – immerhin bringt die Erzählperspektive schließlich automatisch eine Wissenseinschränkung mit sich. Im Übrigen befindet sich der Fokus der Geschichte ohnehin auf den Kriegserfahrungen an der Heimatfront und Boyne schildert hier demnach primär das Leben der Zurückgebliebenen und die Konsequenzen des Krieges auf deren Alltag. So bedeutet der Krieg für Alfie zum Beispiel ganz konkret, dass es keine Marmelade, Sahne oder Süßigkeiten mehr gibt und er nun der Mann im Haus sein und seine Mutter, die neben ihrer Tätigkeit als Krankenschwester noch als Wäscherin und Näherin tätig ist, finanziell unterstützen muss, indem er als Schuhputzer arbeitet. Für Joe Patience, einen Freund der Familie, bedeutet der Krieg hingegen, verachtet zu werden und von Frauen weiße Federn zugesteckt zu bekommen, weil er als sogenannter „Conchie“ (= conscientious objector) aus Gründen des Gewissens den Kriegsdienst verweigert. Für andere wiederum bedeutet der Krieg, Angst vor dem Briefträger zu haben, weil er jederzeit Nachricht über den Tod des Mannes, Bruders oder Sohnes überbringen könnte.
Eingebettet in die Hauptthematik des Buches sind verschiedene kleinere Unterthemen. Dazu gehört beispielsweise die eben genannte Position von Kriegsdienstverweigerern, die von Joe Patience, einem warmherzigen und sympathischen Charakter, vertreten wird. Mit Alfies bester Freundin Kalena Janáček und ihrem Vater, einem Einwanderer aus Prag, die aus angeblicher Angst vor Spionage in ein Internierungslager auf der Isle of Man geschickt werden, bringt Boyne einen weiteren Aspekt des Ersten Weltkriegs in die Geschichte mit ein. Ein grundlegendes Thema in Stay Where You Are and then Leave ist außerdem das Kriegstrauma in Form von „Shell Shock“ (= „Kriegszittern“) oder mittlerweile besser bekannt als „Posttraumatische Belastungsstörung“: Boyne führt seinen Leser in diesem Zusammenhang nicht nur vor Augen, wie skeptisch die meisten Menschen zu der Zeit gegenüber diesem Leiden waren und es gar als Feigheit abtaten, sondern er veranschaulicht vor allem sehr deutlich, was für erschütternde Konsequenzen die Kriegserfahrung für die Betroffenen haben und wie sich dieses Trauma äußern kann. Sicherlich ein Punkt, der heute mit Blick auf Kriegsgeflüchtete und den Militäreinsatz in Krisengebieten noch genauso aktuell und akut ist.
Trotz seiner ernsten Thematik hinterlässt Boynes Roman alles andere als einen schwerfälligen Eindruck. Die Sprache ist leicht und eingängig, die Erzählung kommt erstaunlich leichtfüßig und manchmal fast spielerisch daher. Bisweilen brachten mich Boynes Schilderungen und vor allem Alfies Gedanken und Handeln auch zum Schmunzeln, beispielsweise wenn erklärt wird, aus welchen Gründen und wann Alfie die Schule schwänzt, Boyne Alfies Schuhputzkunden charakterisiert oder dessen abenteuerliche erste Zugfahrt beschreibt. Gefreut habe ich mich auch über die Tatsache, dass Boyne einer Figur (nämlich Marian Bancroft) aus seinem Roman The Absolutist, der übrigens ebenfalls im Ersten Weltkrieg spielt und ohne Frage zu meinen Lesehighlights des letzten Jahres zählt, einen kleinen Gastauftritt in dieser Geschichte gegeben hat. Details wie diese und die oben genannten machen den Roman zusammen mit seiner beachtlichen Wissensvermittlung schließlich zu einem lohnenswerten und gleichzeitig auch kurzweiligen Lektürevergnügen.
Wenn ich ganz ehrlich bin, hatte ich zunächst eigentlich andere Erwartungen an dieses Buch und auch mit einer etwas anderen Handlung gerechnet. Damit hätte Stay Where You Are and then Leave aber vermutlich zu stark den vielen anderen (Erste) Weltkriegstexten geähnelt. Mit seinem Perspektivwechsel und seiner Fokusverschiebung bezüglich der Thematik hat mich Boyne hier jedoch positiv überrascht. Einzig mit dem Ende der Geschichte bin ich nicht ganz zufrieden, da es einerseits zwar herzerwärmend ist, aber vor dem Hintergrund der Geschehnisse und besonders im Vergleich mit anderen Erzählungen aus/über diese/r Zeit vielleicht eine Nuance zu kitschig geraten ist. Davon abgesehen, handelt es sich bei Stay Where You Are and then Leave um eine eindrucksvolle Kriegsgeschichte der etwas anderen Art und vor allem um ein wundervolles Buch, das seinen Lesern einen grundlegenden Teil unserer Vergangenheit verständlich, authentisch und mit viel Einfühlungsvermögen, aber auch mit der angemessenen Eindringlichkeit näherbringt.
Habt ihr schon ein Buch von John Boyne gelesen? Womöglich sogar dieses?
Wie haben sie bzw. hat es euch gefallen?
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Kommentare
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Stay Where You Are… ist einer der wenigen Boynes, die ich noch nicht gelesen habe. Und ich weiß nicht einmal, warum ich mir das Buch noch nicht gegönnt habe, da ich ziemlich sicher bin, dass es mich erneut begeistern wird (so wie dich). Gefreut habe ich mich, als ich bei dir von Marian Bancrofts kleinem Auftritt las. Auch für mich war/ist “The Absolutist” eines der stärksten Bücher Boynes und ich mag es, wie er seine Geschichten Stück für Stück verknüpft (die Kurzgeschichte “Rest Day” hat eine kleine Verbindung zu “The Absolutist” und wohl auch zu “Stay Where You Are And Then Leave”).
Oh wie schön, dass du auch so ein großer Fan von John Boyne bist! 🙂 Wahrscheinlich hast du dann auch schon mehr von ihm gelesen als ich, weil mir doch noch einige fehlen (u.a. “A History of Loneliness”, “The Boy at the Top of the Mountain”, “Crippen” und “The House of Special Purpose”). Die Kurzgeschichte “Rest Day” ist eine der Geschichten in “Beneath the Earth”, oder? Das habe ich auch im Dezember gelesen und habe mich über die zwei (oder waren es sogar drei? Ich weiß es schon gar nicht mehr genau ?) Weltkriegsgeschichten gefreut und auch darüber, dass Georgie in einer der Geschichten vorkam. Finde das auch eine tolle Sache von Boyne, dass er seine ganzen Geschichten so subtil miteinander verknüpft. 🙂 Nach “The Absolutist” war übrigens “The Heart’s Invisible Furies” mein zweiter großer Liebling – hast du das schon gelesen? Dazu kommt bald auch noch eine Rezension. 🙂
“A History of Loneliness” und “Crippen” habe ich leider auch noch nicht gelesen, “The Heart’s Invisible Furies” steht ebenfalls noch auf meiner Warteliste, obwohl es so gut sein soll. “The House of Special Purpose” habe ich dagegen vor Jahren gelesen und so geliebt! Für mich einer meiner Lieblings-Boynes. 🙂 “The Boy at the Top of the Mountain” habe ich vor einem Jahr gelesen und sehr gemocht – es war/ ist erschreckend aktuell und die Rhetorik, durch die Pieter, der Protagonist, beeinflusst wird, ist exakt die gleiche, die heute von AfD und Co. verwendet werden.
Ebenfalls einer meiner Favoriten ist “Noah Barleywater Runs Away” – ein sehr herzerwärmendes Kinderbuch. 🙂
Mmh, ich glaube, “Rest Day” ist Teil von “Beneath the Earth”, bin mir aber nicht 100 % sicher, da ich sie den Kurzgeschichtenband noch vor mir habe. “Rest Day” erschien ursprünglich in der Irish Times (online ist die Geschichte immer noch bei der Irish Times verfügbar) und war später als E-Book erhältlich. Daher habe ich sie damals in digitaler Form gelesen und losgelöst von anderen Kurzgeschichten.
Ich habe bis jetzt auch nur Gutes über “The House of Special Purpose” gelesen und das wandert auf jeden Fall zusammen mit “The Boy at the Top of the Mountain” und jetzt wohl dank dir auch “Noah Barleywater Runs Away” auf meine Leseliste 🙂
Ich habe auch soeben nachgeschaut: “Rest Day” ist eine der Kurzgeschichten in “Beneath the Earth”. Ist dort, wie gesagt, nicht die einzige Geschichte mit Weltkriegsbezug, aber eventuell sind die anderen Kurzgeschichten ja teilweise auch schon vorher veröffentlich worden. 😀
Ich hoffe, du wirst beide Bücher genauso ins Herz schließen wie ich. Jetzt bin ich glatt ein wenig aufgeregt vor Neugier auf deine Eindrücke. 😀
“Rest Day” war bislang meine einzige Kurzgeschichte von Boyne, was aber insofern gut ist, dass “Beneath the Earth” viel Neues für mich bereithalten wird.
Da kann man ja kaum noch drauf warten dieses Buch zu lesen 🙂
Steht jetzt auf jeden Fall auch auf meiner Leseliste
Ich würde ja erstmal “The Absolutist” und “The Heart’s Invisible Furies” empfehlen. ?