Bericht: Lesung von Christian Torkler am 26. Oktober 2018 in Ravensburg
Die Welt (und die Geschichte) einmal anders denken
Für gewöhnlich plane ich Lesungen – wenn möglich – recht weit im Voraus, spontan war bisher nur ein Lesungsbesuch (nämlich die Lesung von T.C. Boyle in Konstanz letzten November) und für die Lesung von Benedict Wells in Zürich letztens hatte ich immerhin noch etwa eine Woche Vorlaufzeit. Neulich war ich aber doch wieder ganz spontan auf einer Lesung und es war eine sehr gute Entscheidung! Ich war an dem betreffenden Wochenende ohnehin auf Heimatbesuch und hatte eh vor, bei der Lieblingsbuchhandlung RavensBuch vorbeizuschauen. Als ich sah, dass dort am Freitagabend eine Veranstaltung mit dem Debütautor Christian Torkler und seiner Lektorin stattfinden würde, dachte ich mir: Wenn ich schon mal da bin, kann ich meine Stippvisite ja gleich damit verbinden. Von dem Autor und seinem Roman Der Platz an der Sonne hatte ich bis dahin noch gar nichts gehört, aber der Klappentext machte mich extrem neugierig, da er thematisch genau nach meinem Geschmack klang – und meine Erwartungen wurden an dem Abend auch nicht enttäuscht, im Gegenteil: Dank RavensBuch habe ich ein sehr interessantes Buch entdeckt, das mir sonst womöglich völlig entgangen wäre.
Theoretisch handelte es sich ja auch um keine klassische Lesung an sich, sondern um ein sogenanntes Werkstattgespräch, ein besonderes Veranstaltungsformat von RavensBuch, bei dem ein/e Autor/in und sein/e Lektor/in von ihrer gemeinsamen Arbeit am jeweiligen Buch berichten und über das Werk sprechen, wobei es aber auch den ein oder anderen Lesepart gibt. Ich war bisher noch nie auf so einem Werkstattgespräch, bin nun aber ganz begeistert von dem Konzept. Natürlich ist es immer schön, seine Lieblingsstellen aus dem Buch von dem oder der Autor/in vorgelesen zu bekommen, aber tatsächlich genieße ich die Gespräche dazwischen und/oder die Fragerunden am Ende immer noch viel mehr, weil man hier noch so viel Spannendes zur Entstehung des jeweiligen Buches, der Arbeit des Autors bzw. der Autorin und manchmal sogar noch zur Person selbst erfährt. Im Fall des Werkstattgesprächs bekommt man zusätzlich auch noch einen kleinen Einblick in die Lektoratsarbeit – für mich auf jeden Fall noch mal ein Extrabonus!
Teamwork über Grenzen hinweg
So berichteten Christian Torkler und seine Lektorin Corinna Kroker zu Beginn von ihrer doch recht ungewöhnlichen Zusammenarbeit, denn der Autor lebt hauptsächlich in Kambodscha, wodurch die gemeinsame Arbeit am Text auf Grund der Zeitverschiebung natürlich einem ganz anderen Rhythmus folgen und entsprechend (um-)gestaltet werden muss. Aber der modernen Technik sei Dank gibt es hier ja mittlerweile auch adäquate Mittel und Wege, um auch die weiteste Entfernung zu überbrücken: Also verabredeten sich die beiden regelmäßig zu Besprechungen auf Skype, die gut und gerne auch einmal über sechs Stunden dauern konnten und bei denen die Lektorin morgens gerade einmal ihren erste Tasse Kaffee trank, während der Autor schon bei seinem Nachmittagskaffee angekommen war. „Die Zusammenarbeit war trotzdem sehr intensiv“, versicherte Kroker – und das glaubt man ihr angesichts der Sympathie, die zwischen den beiden Kollegen zu bestehen scheint, aufs Wort, denn ihre freundschaftliche Interaktion an dem Abend lässt keinen Zweifel daran, dass die beiden bei der gemeinsamen Arbeit sehr viel Spaß hatten. Damit sind Torkler und Kroker ein wunderbares Beispiel dafür, dass Teamwork über Kontinente und Zeitzonen hinweg wunderbare Früchte tragen kann – und hier war das Ergebnis der Zusammenarbeit der Debütroman Der Platz an der Sonne, dessen Handlung und Thematik die beiden nun kurz skizzierten.
Eine alternative Welt(-geschichte)
Mit seinem ersten Roman legt Torkler ein Gedankenspiel zu den Themen „Flucht“ und „Migration“ vor und liefert damit einen unheimlich spannenden Perspektivwechsel: In seiner Geschichte dreht der Autor nämlich die Vorzeichen (und Umstände in) der Welt um, sodass aus der Ersten Welt die Dritte und aus der sogenannten Dritten Welt die Erste wird, was Torkler dadurch erreicht, dass er die „echte“, so stattgefundene Geschichte an einem gewissen Punkt abbiegen lässt: Nach dem Ende des Dritten Weltkriegs liegt Deutschland im Jahre 1961 in Trümmern und ist in sechs Einzelstaaten zersplittert, ganz Europa befindet sich in einem desolaten Zustand, während Afrika prosperiert. Wäre sowas im Geschichtsverlauf wirklich möglich gewesen? „Ich habe mich gefragt, wie wahrscheinlich das Szenario tatsächlich ist und kam dann zum Entschluss, dass es durchaus im Bereich des Möglichen liegt: Es ist nämlich fast ein Wunder, dass es nicht so gekommen ist. Es gab genug Krisen, an denen der 3. Weltkrieg fast ausgebrochen wäre“, verteidigte Christian Torkler seine demnach gar nicht so abstruse Idee. Da das Szenario nicht nur irgendeine „Spinnerei“ werden und wirklich funktionieren sollte, leistete Torkler eine beeindruckende Vorarbeit: Auf rund 200 Seiten schrieb er eine alternative Weltgeschichte von den Jahren 1918 bis 1948 nieder und brauchte für diese Vorbereitung nach eigenen Angaben länger als für das Schreiben des eigentlichen Werks Der Platz an der Sonne.
Das Privileg der richtigen Geburt
Darin geht Torkler von der Prämisse aus, dass alle Menschen gleich sind und es nur die Umstände sind, die über ihr Leben und Schicksal bestimmen. Vor diesem Hintergrund fragte ihn Kroker, ob erst sein Held Josua Brenner oder seine Welt da gewesen seien. „Was zuerst war, war meine Mutter“, antwortete Torkler schmunzelnd. Er erklärte, dass die in seinem Roman dargestellte Sicht auf die Menschen daher rühre, dass seine Mutter ihm und seinen Geschwistern schon früh mit auf den Weg gegeben habe, froh darüber sein zu sollen, die „Gnade der richtigen Geburt“ gehabt zu haben. Anknüpfend an dieses Denken habe er in seinem Roman entsprechend Ungnade walten lassen und beobachtet, wie sich das Leben dann gestalte, erzählte Torkler, dessen Werk aus der Perspektive des kleinen Mannes geschrieben ist, der sich durch eben jene ungnädige Welt „tunnelt“, wie es der Autor nannte. Davon, wie sich das konkret gestaltet, gab Torkler dann direkt im Anschluss eine kleine Kostprobe in Form eines Ausschnitts aus dem ersten Teil des Buches, den er sehr lebhaft vorlas und der zwei wesentliche Elemente des Romans recht deutlich machte: Der Platz an der Sonne ist in Berliner Schnauze geschrieben und an vielen Stellen recht ironisch. Vom Autor persönlich vorgelesen ist das sehr unterhaltsam, aber ich bin gespannt, wie das letztendlich in Schriftform wirkt (ich habe mir das Buch gekauft und werde berichten).
Die vorgelesene Textpassage führte auch beispielhaft vor, was Torkler mit seiner Hauptfigur vorhatte: „Ich wollte, dass es Josua auf verschiedenen Ebenen an den Kragen geht“, erläuterte er. So habe der Protagonist sowohl auf persönlich als auch auf wirtschaftlicher und auch auf politischer Ebene jegliche Hoffnung auf Glück verloren, beschrieb Torkler die Lage Josua Brenners, die ihn schließlich dazu treibt, nach Afrika zu flüchten. Damit wollte er betonen, so der Autor, dass sich niemand einfach so leichtfertig auf den beschwerlichen Weg in die Fremde aufmache. Sowieso ging es ihm und auch seiner Lektorin darum, das gängige Schwarz-Weiß-Denken aufzubrechen und sämtliche Schwarz-Weiß-Muster in der Geschichte grauer einzufärben. „Es war wichtig, Kontur reinzubringen, aber auch nicht zu viel davon“, warf Kroker ein. Auf alle Fälle sollte herausgearbeitet werden, dass sich jemand, der alles hinter sich lasse, auf keine Kreuzfahrt begebe, erklärten die beiden. Gerade wegen dieser aktuell-politischen Note sei es wichtig gewesen, zu zeigen, dass jeder Einzelne eine massive Vorgeschichte vor der Flucht besäße.
Autoren, Lektoren und der Spaß an der Arbeit
Beim Stichwort „Flucht“ wurde dann auch eine Karte mit der Fluchtroute eingeblendet, die Josua Brenner nimmt, um von Berlin nach Ostafrika zu gelangen. Bei dieser hatte sich der Autor, der selbst viele Jahre lang in Tansania gelebt hatte, so gut wie möglich an der eigenen Ortskenntnis orientiert: „Man hat als Autor zwar wenig Vorteile, aber man kann immerhin eine Welt erschaffen, in der man sich auskennt“, meinte er dazu lachend. Die Bedeutung des Wirklichkeitsbezugs für den Autor wird mitunter auch daran deutlich, dass sich der Roman sehr stark an der Mündlichkeit orientiert und unzählige dialektale Färbungen aufweist, für die Torkler und Kroker extra Experten herangezogen hatten. Aber nicht nur die Dialoge sollten so realistisch wie möglich sein, sondern auch die Handlung – was bisweilen zu längeren, manchmal auch angeregteren Debatten zwischen Torkler und seiner Lektorin führte: So war dieser beispielsweise eine Textpassage, die sich ihrer Ansicht nach unnötig in die Länge zog, ein Dorn im Auge, doch der Autor verteidigte sein Ausschweifen an dieser Stelle (es ging um einen Wanderabschnitt Brenners) damit, dass 160 Kilometer eben nicht in zwei Tagen gewandert werden könnten und es halt entsprechend daure. „Ich habe halt einen kleinen Hang zur obsessiven Genauigkeit“, versuchte sich der Autor mit einem breiten Grinsen zu verteidigen.
Überhaupt hatten die beiden bei ihrer gemeinsamen Arbeit oft viel zu lachen, wie Torkler mit einem „Best of“ der witzigsten ursprünglichen Textstellen und den dazugehörigen Lektoratskommentaren demonstrierte. So wunderte sich Kroker beispielsweise über ein Auto, das wie ein Bienchen, statt wie ein Kätzchen schnurrte, oder über Menschen, die aus den Bäumen, statt aus den Wäldern kamen. Heiß her schien es außerdem auch bei der Diskussion darüber hergegangen zu sein, ob ein Popel denn nun als „Bummi“ oder als „Oschi“ bezeichnet werden sollte. Dank des Aufzeigens solcher Feinheiten bewahre der Lektor den Autor deshalb vor so mancher Peinlichkeit, bemerkte Torkler, der sich auch sichtlich über seine eigenen Fehler amüsierte.
Anerkennung für ein wichtiges und mutiges Debüt
Diesen Humor muss man aber auch, wie ich glaube, gut zu bewahren wissen, wenn man so wie Torkler über fünf Jahre an einem Buch schreibt, das sich mit einem so ernsten und gewichtigen Thema wie „Flucht und Migration“ beschäftigt. Mit dem Schreiben seines Erstlingswerks hatte Christian Torkler zwar schon vor der großen Flüchtlingskrise im Jahr 2015 begonnen, doch das, was er in Der Platz an der Sonne beschreibt, ist aktueller denn je – was auch dadurch bestätigt wird, dass sich sogar Katarina Barley, Bundesministerin für Justiz und Verbraucherschutz, als höchst interessierte und aufmerksame Leserin des Romans outete, indem sie den Autor zu einem Gespräch über Migration und Bleiberecht im Rahmen der Frankfurter Buchmesse einlud. Dieses sei sehr gut verlaufen und eines seiner persönlichen Highlights in den letzten Monaten gewesen, berichtete Torkler stolz. Er habe Barley auch gezielt Kontrollfragen gestellt, um sicherzugehen, dass sie seinen Roman auch wirklich gelesen habe, witzelte er.
Trotz all der Scherzerei merkte man ihm aber deutlich an, wie sehr ihm die ganze Thematik indessen am Herzen liegt. So erzählte er mit spürbarer Leidenschaft die eine oder andere Anekdote aus seiner Zeit in Tansania, die seine Weltsicht geprägt hatte: „Aus der Distanz habe ich klarer gesehen, wie die Welt geschaffen ist“, erklärte er. Als Beispiel für das Ungleichgewicht zwischen der westlichen und der sogenannten Dritten Welt und die daraus resultierende Absurdität führte Torkler an, wie hier teilweise Bäume sogar gezählt und nummeriert würden, während in anderen Teilen der Erde wiederum hektarweise Bäume gefällt würden. Mit in der Luft förmlich greifbarer Überzeugung und Passion hielt er im Anschluss ein eindrucksvolles Plädoyer dafür, dass Migration weniger eine Bedrohung, sondern vielmehr eine große Chance für den Westen darstelle und dass man die Fragen, die uns aktuell umtrieben, globaler denken müssten. Wie sehr hier der Funke aufs Publikum übergesprungen ist, zeigt allein die Tatsache, dass sich darauf ein Zuhörer noch vor der eigentlichen Fragerunde meldete und darum bat, „mal kurz dazwischen klatschen zu dürfen“, und sofort sämtliche Zuhörer miteinstimmten.
Natürlich brandete auch noch mal am Ende dieses kurzweiligen und äußerst interessanten Werkstattgesprächs ein anerkennender Applaus über den Autor, seine kompetente Lektorin und sein mutiges Werk, das zur Stunde nicht aktueller sein könnte, herein. Da ich mich ja seit meiner Studienzeit auch immer wieder literarisch mit den Themen „Flucht“ und „Migration“ auseinandersetze, war der Abend für mich sehr inspirierend und ich freue mich nun sehr darauf, das Buch bald zu lesen, mich auf Torklers Gedankenexperiment, das, wie ich gelernt habe, so abwegig ja gar nicht ist, einzulassen und hier dann an andere Stelle wieder davon zu berichten.
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