Rezension: “City of Thorns: Nine Lives in the World’s Largest Refugee Camp” von Ben Rawlence

(Über-)Leben in der Stadt der Verlorenen

In meinen beiden Rezensionen über Nadifa Mohameds Roman The Orchard of Lost Souls und Crossbones von Nuruddin Farah bin ich literarisch sozusagen bereits in den afrikanischen Kontinent vorgestoßen und habe euch damit (hoffentlich!) einen kleinen Ein- und vielleicht auch Überblick über die Geschichte Somalias und die Lage in dem Land geboten. Diesen Fokus möchte ich im heutigen Beitrag etwas ausweiten, nämlich auf das Nachbarland Kenia und die Geschehnisse in Ostafrika allgemein. Im Prinzip könnte die Lektüre, die ich euch gleich vorstellen werde, vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise und besonders der momentanen Dürre und Hungersnot in Ostafrika kaum aktueller sein: Der britische Journalist und Menschenrechtler Ben Rawlence beschäftigt sich in seiner Reportage City of Thorns: Nine Lives in the World’s Largest Refugee Camp nämlich eindringlich mit einem Ort, der aufgrund der aktuellen Ereignisse wieder in das globale Blickfeld rückt – die Rede ist von Dadaab, dem weltweit größten Flüchtlingscamp.

Vielen wird der Name „Dadaab“ wahrscheinlich nichts sagen. Auch mir war er lange kein Begriff, bis ich mich mit der Geschichte Somalias und in diesem Zusammenhang auch eindringlicher mit der Lage in Ostafrika auseinandersetzte. Ich wusste zwar, dass es in Ostkenia nahe der somalischen Grenze ein Flüchtlingscamp gibt, jedoch war ich mir dessen tatsächlicher Größe nicht bewusst und konnte mir die dortige Situation auch nicht einmal annähernd vorstellen. Wie ich dank Ben Rawlence erfahren habe, ist Dadaab mit ungefähr 500 000 Einwohnern das weltweit größte Flüchtlingslager. Es befindet sich mitten in der Wüste und fernab jeglicher Zivilisation, Rawlence beschreibt es als „an urban area the size of New Orleans, Bristol or Zurich unmarked on any official map.“ (S.2) – diese Ausmaße muss man sich erst einmal vergegenwärtigen! Seit 25 Jahren strömen überwiegend Somalier, aber auch Bürger anderer angrenzender Nachbarländer auf der Flucht vor Bürgerkrieg, Hungersnöten, religiöser Verfolgung und Terrorismus in die mittlerweile fast vergessene „Stadt der Dornen“. Zwar wird Dadaab größtenteils durch Auslandshilfe finanziert, die UNO hat die Gelder und vor allem die Lebensmittelrationen im Zuge anderer humanitärer Bemühungen (z.B. in Syrien) inzwischen stark reduziert. Vor allem aber der kenianischen Regierung ist das Camp nach wie vor wortwörtlich ein Dorn im Auge: Unter dem Vorwand der „Terrorgefahr“ wurde immer wieder mit der Schließung des Camps gedroht, seit einigen Jahren werden außerdem (teils drastische und vor allem dubiose) Versuche unternommen, die Flüchtlinge in ihre meist noch immer unsichere Heimat zurückzusenden. Weil die Bewohner weder legal in Kenia leben noch einer rechtmäßigen Arbeit außerhalb des Camps nachgehen dürfen, eine Rückkehr in die Heimat jedoch oftmals (eigentlich) keine Option und die Chance auf eine Umsiedlung in westliche Länder nicht groß ist, befinden sie sich in einem permanenten Schwebezustand. Fergusson formuliert es in seinem Vorwort folgendermaßen: „To live  in this city of thorns is to be trapped mentally, as well as physically, your thoughts constantly flickering between impossible dreams and a nightmarish reality.“ (S.5) Und genau über diese “unerreichbaren Träume” und jene “alptraumhafte Realität” berichtet der Menschenrechtsbeobachter äußerst eindringlich in seiner aufschlussreichen Reportage.

Über mehrere Jahre hinweg (genauer von 2010 bis 2015) hat Ben Rawlence vor Ort in Dadaab recherchiert und die Schicksale einzelner Campbewohner verfolgt. Indem er die Geschichte einiger dieser Flüchtlinge in den Fokus rückt und den Leser das dortige Leben und Geschehen durch ihre Augen sehen lässt, gibt er der Masse, die man üblicherweise aus Medienberichten kennt, ein individuelles Gesicht und eine eigene Stimme. So lernen wir verschiedene Kinder, Jugendliche und Erwachsene kennen, die beispielsweise nach Ausbruch des Bürgerkriegs in Somalia nach Kenia geflüchtet sind oder wegen der Hungersnot 2011 in Dadaab gelandet sind – manche von ihnen (und zwar eine ganze Generation!) sind dort aufgewachsen und kennen nichts anderes als das dortige Leben. Rawlence beschreibt ihre Versuche, für sich und ihre Familien unter den widrigsten Bedingungen eine Existenz aufzubauen: In Zelten oder Hütten aus Lehm und Dornenästen und Dächern aus Wellblech und Plastik, mit oft mageren Essenrationen und in den allermeisten Fällen ohne ein geregeltes Einkommen bestreiten die Flüchtlinge ihren Alltag. Er schildert, wie die Menschen dort ausharren, lernen, leiden, arbeiten, für ihre Rechte kämpfen, verzweifeln, streiten, sich verlieben und Familien gründen. Damit erzählt er überwiegend ganz gewöhnliche Geschichten aus dem Leben, wie sie in diesem Kontext allerdings kaum bis gar nicht in den Medien gezeigt werden.

In insgesamt drei Teilen beleuchtet Rawlence also die Schicksale einzelner Campbewohner und damit gleichzeitig auch die Geschichte des Camps und die Hintergründe und vor allem Auswirkungen politischer und sozialer Umbrüche in Ostafrika. Im Mittelpunkt stehen besonders junge Erwachsene, die in Dadaab aufgewachsen sind: Zum einen gibt es da beispielsweise Nisho, der versucht, als Gepäckträger auf dem Markt in Dadaab über die Runden zu kommen; oder Tawane, der sich als Jugendleiter politisch engagiert; oder Kheyro, die dank der Aufopferung ihrer Mutter als eine der wenigen Privilegierten im Camp zur Schule gehen konnte und nun von einem Studium träumt. Auch von Guled, der sich als Teenager aus den Fängen von al-Shabaab befreien konnte, erfahren wir, und von dem findigen „Professor“ Indha Dae, der wegen seiner ursprünglichen Blindheit „White Eyes“ genannt wird und sich mit immer neuen Geschäftsideen über Wasser hält, während in einem anderen Teil des Camps Monday und Muna wiederum wegen ihrer interkulturellen Beziehung (sie ist Somalierin und Muslimin, er ist Sudanese und Christ) um ihr Leben und das ihres ungeborenen Kindes bangen müssen. Und auch wenn ihre Schicksale und Situationen teilweise ganz unterschiedlich sind, hegen sie doch alle ähnliche Träume und Hoffnungen und sehen sich mit den gleichen Sorgen und (Zukunfts-)Ängsten und vor allem derselben Ungewissheit konfrontiert. Der Autor fasst ihre Situation folgendermaßen zusammen: „In truth, the inhabitants of the camp were trapped; there were no good options, they had nowhere to go. Somalia was racked with violence and the resettlement process remained stalled. In the heat, the fear, and the uncertainty, a stable point of view was a rare and precious thing. The refugees’ conversation was the dialogue of the prisoner with his own walls.” (S.221)

Mit seinem Bericht deckt Rawlence vor allem aber auch die in dem Camp herrschende Ungerechtigkeit, Willkür und vor allem Korruption auf: Die wenigen Umsiedlungen von Flüchtlingen in den Westen geschehen häufig beliebig oder fallen kurzerhand unter den Tisch, die Verteilung der Lebensmittelrationen scheint teilweise ganz nach den Launen der Aufseher vonstatten zu gehen und immer wieder werden Campbewohner wegen mutmaßlichen „Terrorverdachts“ verhaftet – offenbar vor allem wegen der Hoffnung auf den Erhalt von Schmiergeld oder, um die Bewohner von Dadaab dazu zu bewegen, das Lager „freiwillig“ zu verlassen. So wird schnell klar, dass ganze Wirtschaftsbereiche und bestimmte Kreise im Untergrund aus der Lage in dem Camp einen Nutzen ziehen und somit unzählige Menschen von dem Chaos und dem Krieg profitieren und die Instabilität damit weiter fördern. Rawlence schreibt gegen Ende des Buches: „There was a crime here on an industrial scale: confining people to a camp, forbidding them to work, and then starving them; people who had come to Dadaab fleeing famine in the first place.“ (S.345) Solche und andere humanitären Fehltritte (und teils Verbrechen), die der Menschenrechtler in seinem Buch aufzeigt, sind zutiefst erschreckend.

Was also die Behandlung des Themas, die Informationsdichte und die Recherchetätigkeit betrifft, bin ich von Rawlences Reportage absolut begeistert. Dafür lohnt sich die Lektüre auf alle Fälle, zumal der Gewinn neuer (Er-)Kenntnisse hier ohnehin im Vordergrund stehen sollte. Wer jedoch zusätzlich mit (höheren) literarischen Ansprüchen an dieses Werk herantritt, der könnte eventuell enttäuscht werden: Sprachlich, stilistisch, erzählerisch und vor allem strukturell kann Rawlence leider nicht so richtig überzeugen. Zwar liest sich sein Roman aufgrund seiner überwiegenden Fokussierung auf neun individuelle Schicksale teilweise wie Fiktion, die Erzählung wirkt jedoch oft ein bisschen abgehackt, da sie häufig von Thema zu Thema bzw. Ort zu Ort springt. Der Fokus auf neun Einzelschicksale und der gleichzeitige Charakter- bzw. Orts- und Themenwechsel ist jedoch auch insofern problematisch, als dass man als Leser recht schnell den Überblick verliert, zumal zu den Hauptcharakteren ja auch noch Freunde, Familie und Nachbarn hinzukommen. Eventuell lag es bei mir auch daran, dass ich das Buch wegen Zeitmangels über mehrere Wochen gelesen und deswegen wahrscheinlich immer automatisch etwas den Anschluss verloren habe, allerdings bin ich der Meinung, dass Rawlence mit einer besseren Struktur und mitreißenderen Erzähltechnik noch deutlich mehr aus seinem gleichwohl bemerkenswerten Werk herausholen hätte können (als ein Beispiel für eine Reportage, die in all den erwähnten Punkten glänzt, möchte ich hier kurz James Fergussons The World’s Most Dangerous Place: Inside the Outlaw State of Somalia lobend erwähnen).

Nichtsdestotrotz hat mich Ben Rawlences eindringlicher Bericht sehr bewegt und vor allem enorm zum Denken angeregt. City of Thorns bietet eindrückliche Einblicke in und aufschlussreiche Erläuterungen über die Situation in Ostafrika. Aus diesem Grund hilft das Buch auch sehr gut dabei, Fluchtursachen zu verstehen und nachvollziehen zu können, wieso viele Flüchtlinge aber auch die unsichere Lage in ihrer Heimat oder die gefährliche Reise nach Europa dem scheinbar „so bequemen“ Leben im Flüchtlingslager vorziehen. Gerade wegen seiner Behandlung von Themen, die momentan wichtiger und aktueller denn je sind, und der Tatsache, dass die Schicksale hinter den jeweiligen Schlagzeilen in den Fokus gerückt werden, handelt es sich bei City of Thorns um ein Buch, das man auf alle Fälle guten Gewissens empfehlen kann.

Wie ist das bei euch: Lest ihr gerne Sachbücher? 

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