Rezension: “Wackelkontakt” von Wolf Haas
Ganz schön raffiniert: Trickkiste zwischen zwei Buchdeckeln
Wolf Haas hat es schon wieder getan: In seinem neuen Roman Wackelkontakt spielt und zaubert der österreichische Bestsellerautor aufs Neue mit Sprache, dass es eine wahre Freude ist. Das war nach seinem letzten großen Wurf, dem brillanten Eigentum, zu erwarten oder zumindest zu erhoffen. Doch Haas’ neuester Geniestreich ist auch eine Wucht im Hinblick auf den Inhalt, das Spiel damit und die daraus resultierende Konstruktion – oder resultiert das Spiel etwa aus Inhalt und Konstruktion? Das ist auch der Knackpunkt des Romans: Wo sind jeweils der Anfang und das Ende, der Start und das Ziel einer Geschichte und wo und wie führen alle Fäden schließlich zusammen? Ein eigentlich unmögliches literarisches Gedankenexperiment, das verblüffenderweise tatsächlich aufgeht und allen, die sich auf dieses wahnwitzige Spiel einlassen, einen durch und durch irrsinnigen Lesegenuss bietet.
Aber erstmal eins nach dem anderen, also der (vermeintlichen) Reihe nach: Da hätten wir einmal Franz Escher, einen mäßig gebuchten Trauerredner, gescheiterten Schriftsteller und puzzlesüchtigen Eigenbrötler mit einer Lesevorliebe für Bücher mit Mafiabezug, der sich einem kleinen, aber eigentlich leicht behebbaren Problem gegenübersieht: Eine Steckdose in seiner Küche hat einen Wackelkontakt, der von einem Elektriker behoben werden soll, auf den Escher nun wartet. Zum anderen wäre da noch Elio Russo, ein Ex-Mafioso im Zeugenschutzprogramm, der kurz vor der Entlassung aus dem Gefängnis und einem neuen Leben mit neuer Identität als Marko Steiner steht. Zum Zeitvertreib lesen beide ein Buch, in dem der jeweils andere – und letztlich auch sie selbst – eine Hauptrolle spielen, und als es für den handwerklich begabten Russo alias Steiner, der sonst eigentlich ein gutes Händchen für Elektrik hat, zu einer schicksalhaften Begegnung mit einer defekten Steckdose kommt, nehmen die Dinge ihren Lauf, oder besser: Rundlauf.
Ausgehend von der einen Erzählebene, der Geschichte um den Trauerredner Franz Escher, hüpft man als Leser:in nun immer wieder zwischen diesen beiden – wenn man es so nennen will – Leveln hin und her, zunächst noch in einem langsameren, überschaubaren Takt, in dem die Ebenen zumeist auch optisch noch gut voneinander zu trennen sind. Doch mit der Zeit zieht Haas das Tempo mit häufigeren Sprüngen zum jeweils anderen Leben immer mehr an, wodurch sich diese immer stärker miteinander verbinden und zum Schluss sogar nahtlos – mitten im Satz – ineinander übergehen. Damit sind zwei Geschichten, die anfangs unabhängig voneinander wirkten, scheinbar zu einer geworden – bis man sich als Leser:in mit der Zeit fragt, ob sie nicht schon längst eine einzige Geschichte waren.
So lässt Wolf Haas graduell ein Bild entstehen oder zumindest dessen scheinbare Vollständigkeit gelegentlich aufblitzen, doch ganz zu greifen ist dieses nicht: Immer wieder verrutscht, verschiebt sich etwas, die schön zurechtgelegten Teile geraten wieder durcheinander und müssen wieder neusortiert werden, wobei auch die Angst aufkommt, am Schluss könnte gar noch ein Teil fehlen. Nicht umsonst spielt das Puzzeln in Haas’ Roman letztlich so eine große Rolle, nicht aus Zufall teilt eine der Hauptfiguren ihren Nachnamen mit einem niederländischen Künstler, der für seine optischen Täuschungen bekannt ist, und so ist auch der Titel Wackelkontakt ein äußerst passendes Sinnbild für das Leseerlebnis.
Denn tatsächlich beschleicht einen beim Lesen, aber vor allem beim Nachdenken über die Geschichte(n) ab und an das Gefühl, im Kopf herrsche eine Art Wackelkontakt – und je mehr man darüber grübelt, desto näher kommt man an den Punkt, an dem die Glühbirne durchzubrennen droht. Genau dann reicht der Autor seinen Leser:innen aber wieder die Hand und führt sie auf einen vermeintlich sicheren Boden, nur um ihnen kurz darauf wieder den Teppich unter den Füßen wegzuziehen: Ein irrer Tanz im Kreis und ein Verwirrspiel, das einen bisweilen fast in den Wahnsinn treibt und gleichzeitig unendlichen Spaß bereitet.
Da fragt man sich auch unweigerlich, wie viel Vergnügen – oder auch zuweilen wie viel Frust – Haas beim Schreiben dieses in vielerlei Hinsicht wirklich ingeniösen Romans gehabt haben muss. In diversen Interviews rund um die Buchveröffentlichung war zumindest zu lesen, dass er die Romanidee schon einige Jahre mit sich herumgetragen hatte, aber sich nicht sicher gewesen sei, ob sie klappen könnte – und als er sich schließlich doch darauf einließ, sei er oftmals selbst überrascht gewesen, dass dieser Versuch dann doch aufging, wenngleich er zugibt, dass er beim Schreiben bisweilen besorgt um seinen eigenen Geisteszustand gewesen sei. Da kann man nur sagen: Was für ein Glück, dass Haas dieses Opfer erbracht und mit Wackelkontakt einen durch und durch originellen Roman vorgelegt hat, der seiner Leserschaft ein unvergessliches Lesevergnügen beschert.
Besondere Freude bereitete mir persönlich wieder einmal das für Haas so typische Spiel mit Sprache und deren Struktur, das vor allem im Zusammenhang mit der Figur Elio Russo alias Marko Steiner, die Deutsch lernt und sich damit ausgiebig mit Sprache auseinandersetzt, zutage tritt bzw. mit und an der Haas seine große Sprachkunst teilweise förmlich demonstriert und durchexerziert. Beispielhaft gerne ein paar der vielen zitierwürdigen Stellen, die ich mir hierzu markiert habe:
„Ja“, sagte Marko. „Geklaut. Gestohlen. Entwendet. Ich musste nur kurz verschwinden, da war das Rad verschwunden.“ „Ach, du Armer“, sagte die Frau mit ihrem wahn! (Bei Frauke hatte er beobachtet dass sie, wenn ihr etwas besonders gefiel, das Wort „wahnsinnig“ nicht nur verwendete, sondern in zwei Teile schnitt. Mit einer Pause, in der der Wahnsinn sich entfalten konnte. Jetzt verstand er, warum sie das machte.) sinnig schönen Mund. Die fremde Frau mit den wahnsinnig schönen Zähnen hatte eine waffenscheinpflichtiges Lächeln. (S. 51)
Der leere Tank stoppe ihn. Pech haben. Eine Schlappe erleiden. Einen Rückschlag hinnehmen. Wenn Marko Steiner wütend wurde, zählte er nicht bis hundert, er memorierte Vokabeln. Schrottkarre! Rostlaube! Pfuscher! Stümper! Patzer! Dilettant! Quacksalber! (S. 77)
Ansonsten blieb alles beim Alten. Sie waren eine glückliche Familie, die respektvoll über Hintergründe, Abgründe und Beweggründe hinwegsah. (S. 117)
Vor allem in sprachlicher Hinsicht habe ich den ersten Teil des Romans zwar generell als etwas stärker empfunden, dafür kann die zweite Hälfte mit der ein oder anderen erstaunlichen Wendung trumpfen. Außerdem häufen sich hier auch die fast aberwitzigen Momente, in denen Haas in seinen eigenen Sätzen bzw. in den Aussagen und Gedanken seiner Charaktere mehr oder weniger subtil andeutet, vorführt, direkt mit dem Finger darauf zeigt, welches Spiel er gerade mit seinen Leser:innen treibt, oder diesen den Spiegel vor Augen hält – beispielsweise in und mit Passagen wie folgenden:
Das Buch war einfach zu spooky. Etwas stimmte nicht damit. Wie wenn man durch ein Fernglas schaute, aber verkehrt herum. Dass einem schwindelig wurde. (S. 157)
Mangel haben. Eine Leere verspüren. Er verstand nicht, was hier abging. Was lief hier eigentlich? Das Bild setzte sich nicht zusammen. Er hatte einen Mangel an Informationen. Er hatte ein Zuviel an Informationen. Eine unendliche Leere öffnete sich unter seinen Füßen. (S. 162)
Wenn er noch einen Schritt machte, würde er in einen Sog geraten und Treppe um Treppe ewig hinuntersteigen müssen wie in diesem Puzzle, das er schon so oft zusammengebaut hatte. (S. 164/165)
Ob man als Leser:in am Ende des Romans für sich persönlich alle notwendigen Teile gefunden hat und das Puzzle zusammengebaut bekommt, darf jede:r gerne selbst ausprobieren. Für mich hat sich – zumindest nach der ersten Lektüre – tatsächlich noch kein einwandfrei lückenloses Bild ergeben, was für mich aber absolut kein Problem darstellt(e), sondern im Gegenteil: Genau dieser Umstand macht meiner Meinung nach auch den Reiz des Romans aus und nach dem Zuklappen des Buches habe ich direkt das Verlangen verspürt, den Roman nochmal von vorn zu lesen, denn ich bin mir sicher, bei einer erneuten Lektüre auf andere Aspekte zu schauen, vorher nicht Beachtetes zu entdecken oder gar auf das ein oder andere „Easter Egg“ zu stoßen und dabei möglicherweise erneut überrascht zu werden. Schon während des Lesens hat mich das Buch nach dem Weglegen weiter beschäftigt, auch nachdem ich Wackelkontakt fertig gelesen hatte trieb es mich noch eine Weile intensiv um und selbst jetzt noch fasziniert es mich, wie Wolf Haas hier mit einem tiefen Griff in die Trickkiste seine Leser:innen in eine literarische Endlosschleife schickt, sodass beim Lesen eine akute Schwindelgefahr besteht, der Spaßfaktor dafür aber umso größer ist. Was für eine reife Leistung!
Werbung – Vielen Dank an dieser Stelle an die Hanser Literaturverlage für das Zusenden des Leseexemplars und die Möglichkeit, dieses Buch besprechen zu dürfen.
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