Bericht: Lesung von Melanie Raabe am 29. November 2018 in Ravensburg

Ein literarischer Kurztrip nach Wien

Letzten Donnerstag habe ich meine sieben Sachen zusammengepackt und bin eine (kleine) Reise angetreten: Einmal quer über den Bodensee ging es nämlich auf einen Abstecher nach Wien, äh, Ravensburg. Dort las nämlich Bestsellerautorin Melanie Raabe in der Buchhandlung RavensBuch aus ihrem neuen Thriller „Der Schatten“ und nahm das Publikum dabei mit auf einen literarischen Kurztrip in die österreichische Hauptstadt. Nach der tollen Lesung im Frühjahr vergangenen Jahres hatte ich, nachdem ich erfuhr, dass die Autorin auf dieser Lesereise wieder einen Stopp in Ravensburg einlegen würde, dem Termin monatelang entgegengefiebert und wurde nicht enttäuscht: Die Lesung war ein grandioser Abschluss meiner Lesungssaison, die im Frühsommer ebenfalls bei RavensBuch mit Robert Seethaler bereits fantastisch begonnen hatte.

Abgesehen von der Tatsache, dass beide Lesungen großartig waren und ich beide Romane sehr mochte, ist die Schnittmenge von Das Feld und Der Schatten wahrscheinlich nicht allzu groß, aber immerhin eines haben die Bücher gemein: Sie beschäftigen sich beide mit den Themen „Tod“ und „Trauer“. Ansonsten ist jedoch vor allem der Kontrast zwischen den Schauplätzen der Romane sowie auch der zeitliche Abstand der beiden Veranstaltungen besonders auffällig und interessant: Vom beschaulichen Kleinstädtchen Paulstadt ging es in die 1,8 Millionen-Metropole Wien und schwitzten die Lesungsbesucher damals Ende Juni noch in der drückenden Schwüle des Ravensburger Schwörsaals, waren nun, fast genau sechs Monate später, alle dick eingepackt. Bereits auf der Strecke nach Ravensburg hatte sich der für diese Zeit so typische Bodenseenebel streckenweise über die Landstraße gelegt, durch die Sträßchen der Stadt der Türme und Tore zog ein eisiger Wind und zu Lesungsbeginn war es draußen natürlich schon längst stockdunkel – die perfekte Atmosphäre für einen Roman wie Der Schatten, wie auch die Autorin zu Beginn der Lesung bemerkte und sich sichtlich über die winterliche Stimmung freute, schließlich spiele der Roman im winterlichen Wien und die Protagonistin friere ständig. Reichlich ironisch und etwas seltsam sei es da gewesen, bestimmte Zeilen des Romans auf der allerersten Lesung zu Der Schatten Ende Juli in Köln an einem der heißesten Tage des Jahres vorzulesen, erzählte die Autorin. „Die Leute saßen wie Flamencotänzerinnen mit Fächern da und versuchten, sich irgendwie abzukühlen, während ich ihnen vorlas, wie meine Protagonistin sich fast die Zehen abfriert“, schilderte sie lachend die etwas absurde Situation.

Das ist nur eine der vielen unterhaltsamen Anekdoten, die Melanie Raabe an dem Abend mit im Gepäck hatte und zwischen den Leseparts auf so einnehmende Weise zum Besten gab, dass ihr wieder jede Besucherin und jeden Besucher an den Lippen hing. So hatte sie gleich zu Beginn die Sympathie des Publikums auf ihrer Seite, als sie davon erzählte, wie ihr – übrigens von 70er-/80er-Serien wie zum Beispiel „Ein Colt für alle Fälle“ inspirierter – Kindheitstraum, einmal Stuntfrau zu werden, schon früh daran zerplatzte, dass sie sich einst bei dem Versuch, mit dem Fahrrad einen U-Turn zu vollführen, die Schneidezähne ausgeschlagen hatte. „Das war’s dann endgültig mit der Karriere als Stuntfrau“, lachte Raabe. Aber das Ganze war gewissermaßen auch ein großes Glück, da der deutschen Literaturszene ansonsten ein großes Talent verlorengegangen wäre – obwohl der Weg in die Bestsellerliste kein gerader und vor allem kein kurzer war, wie die Autorin in Ravensburg berichtete: Nachdem sie bald mit sich eher schlecht als recht reimenden Gedichten gescheitert war, begann sie, längere Texte zu schreiben, sei damit aber lange sehr schüchtern gewesen, gab Raabe zu. Schließlich hat es rund zehn Jahre und vier Anläufe in Form von vier Manuskripten gebraucht, bis sie mit ihrem Debütroman Die Falle doch noch bei einem Verlag gelandet ist. Seitdem wurden zwei weitere Thriller veröffentlicht, davon jüngst Der Schatten.

Einen Roman zu beenden sei jedes Mal ein wahnsinniges Glücksgefühl, beantwortete Melanie Raabe die Frage einer Leserin, die wissen wollte, wie es ihr gehe, wenn sie ein Buch fertig habe. Kein Wunder, dass man da eine gewisse Erleichterung spürt, wenn der Schreibprozess, wie es die Autorin beschrieb, lang und oftmals anstrengend ist – vor allem, da man ein großes Stück der Arbeit autark bewältige und alleine sei, merkte Raabe an. „Da gibt es bei mir und auch bei Kollegen schon Momente tiefster Verzweiflung, in denen man denkt, dass alles, was man schreibt, Quatsch ist“, berichtete sie. Dennoch achte sie darauf, sich nicht zu quälen, wenn es mal nicht so laufe, und Langeweile beim Schreiben zu vermeiden. Dennoch beteuerte Raabe, dass sie den schönsten Job der Welt habe und diesem auch nachgehen würde, selbst wenn sie nicht dafür bezahlt würde – und das glaubt man der sympathischen Autorin, die nur so vor Begeisterung für ihre Arbeit und ihre Ideen sprüht, sofort aufs Wort.

Nachdem es sich bei ihren beiden ersten (bisher) unveröffentlichten Projekten um Romane handelt und sich ihre drei bis dato veröffentlichten Werke zwischen den Genres „Roman“ und „Thriller“ bewegen, wäre es für Raabe auch denkbar, irgendwann einmal auch noch ein anderes Genre auszuprobieren. So könne sie es sich zum Beispiel gut vorstellen, mal einen Fantasyroman zu schreiben – allerdings unter einem Pseudonym, erklärte Melanie Raabe. „Ich bräuchte aber wahrscheinlich Jahre, um einen geeigneten Namen zu finden“, witzelte die Autorin, die sich die Namen ihrer Figuren, wie die Besucherinnen und Besucher der Lesung in Ravensburg erfuhren, immer gut überlegt. Das gilt auch für die Charaktere in ihrem neuesten Roman Der Schatten, um den es an dem Abend schließlich auch hauptsächlich ging. In diesem Zusammenhang erfuhr das Publikum dann zum Beispiel, dass die Protagonistin ihren endgültigen Namen, nämlich „Norah“, erst später bekommen hatte, nachdem dieser der Autorin während eines Theaterbesuchs kam, und zunächst Paula und dann Anna hieß. Auch für den Namen einer zentralen Figur der Geschichte, die jedoch erst später erscheint und deren Namen deshalb umso wichtiger ist, war Raabe lange auf der Suche, bis sie dem Charakter letztendlich den Vornamen ihres Urgroßvaters verpasste und sich für den Nachnamen von ihrem eigenen Bücherregal inspirieren ließ. Da mutet es fast schon schicksalhaft an, dass Raabe nach der Veröffentlichung des Romans im Juli auf einem gemeinsamen Spaziergang durch Wien mit ihrer Autorenkollegin Petra Hartlieb zufällig exakt denselben Namen an einer Hausfassade entdeckte. „Das ist so verrückt, dass ich mir solange den Kopf über diesen Namen zerbrochen habe und ihn dann quasi auf der Straße gefunden habe. Das glaubt mir wahrscheinlich kein Mensch“, erzählte Raabe, die damit fast so wie ihre eigene Protagonistin im Stadtbild Wiens von dem Namen verfolgt wurde.

Kann man dieses Vorkommnis noch als kuriosen Zufall werten, mutet ein ähnlich gelagerter, aber deutlich bizarrerer Vorfall, der sich ebenfalls nach der Veröffentlichung des Romans ereignete, fast schon ein bisschen unheimlich an. Vor Beginn der Lesetour reiste Raabe nach Italien, wo ihr bei einem Zwischenstopp in Venedig etwas ganz Ähnliches passierte wie Norah. Die berühmte italienische Wasserstadt versprüht nämlich einen ähnlich düsteren und, wie es Raabe bezeichnete, „morbiden Charme“ wie Wien, deshalb ist es wohl umso bezeichnender, was die Autorin dort erlebte: Als dort zufällig ein Leichenzug auf einem Boot an ihr und ihrer Begleitung vorbeifuhr, landete just in diesem Moment eine tote Möwe direkt vor ihren Füßen. „Im Buch wäre eine solche Szene völlig übertrieben gewesen“, scherzte Raabe, die, wie sie erklärte, in ihren Romanen gerne wohldosierten Gebrauch von düsteren Symbolen mache, die Unheil ankündigten. Mit solch einer grotesken Geschichte im Kopf ist es dann auch kein Wunder, dass ein Satz wie „Die Vögel fallen tot vom Himmel“, zu dem die Autorin daraufhin auch das dazugehörige Kapitel vorlas, noch eine ganz andere Bedeutung bekommt.

Eben jene Anekdote und auch die dazugehörige Szene im Buch sind perfekte Beispiele dafür, wie es Melanie Raabe so meisterhaft gelingt, eine einzigartige Atmosphäre zu erzeugen und diese so einnehmend zu erzählen, dass man sowohl als Leser des Buches als auch als Zuhörer im Publikum gespannt mitfiebert. Insgesamt las die Autorin drei Szenen aus Der Schatten vor und die Leseparts haben mich so mitgerissen, dass ich mich ein paar Mal dabei ertappt habe, wie ich mir dachte „Wow, so eine spannende Geschichte, die muss man unbedingt lesen!“ – dabei habe ich den Roman ja erst letztens gelesen. 😀 Überhaupt war es diesmal doch ganz schön, alle drei Romane zu kennen und so manche Anspielung direkt verstehen zu können. Das war letztendlich auch einer der Gründe – aber bei weitem auch nicht der einzige! –, weshalb ich diese literarische Reise nach Wien noch ein bisschen mehr genossen habe als den bereits tollen Kurztrip nach Hamburg mit Melanie Raabe im letzten Jahr. Deshalb freue ich mich schon jetzt auf die nächste (Lese-)Reise mit dieser fantastischen Reiseführerin und bin definitiv wieder dabei – egal, wohin es dann gehen wird.

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