Rezension: “Salt to the Sea” von Ruta Sepetys
Salz für die See und Salz auf den Buchseiten
Es gibt genau fünf Bücher, die mich emotional so tief getroffen haben, dass ich diese Lektüren bis heute noch nicht richtig überwunden habe. Dazu gehören The Song of Achilles (Madeline Miller), The Lovely Bones (Alice Sebold), One Day (David Nicholls), Vom Ende der Einsamkeit (Benedict Wells) und The Absolutist (John Boyne). Jetzt darf sich ein neuer Roman zu dieser illustren Runde gesellen: Salt to the Sea von Ruta Sepetys. Etlichen überschwänglichen Rezensionen sowie Instagram ist es zu verdanken, dass ich auf dieses Meisterwerk gestoßen bin und da ich ja gerne und viel über den 1. und 2. Weltkrieg lese, wanderte Sepetys’ Roman schnurstracks auf meinen Lesestapel.
Die amerikanische Schriftstellerin mit litauischen Wurzeln basiert ihren Roman auf einer der verheerendsten Katastrophen in der Geschichte der Seefahrt überhaupt. Wer jetzt glaubt, es ginge hier um den Untergang der Titanic im Nordatlantik im Jahre 1912, der liegt allerdings (see-)meilenweit daneben. Sepetys widmet sich in ihrem Buch einer noch viel größeren, aber dennoch fast in Vergessenheit geratenen Tragödie, nämlich dem Untergang der Wilhelm Gustloff am 30. Januar 1945. Tausende Menschen, die gegen Ende des Zweiten Weltkriegs auf der Flucht vor der Roten Armee waren, hatten ihre letzte Hoffnung in das Schiff gesetzt – fanden aber letztendlich tragischerweise ihre letzte Ruhestätte in den eisigen Tiefen der Ostsee.
Auch Joana, Florian und Emilia sind auf der Flucht. Nicht nur vor dem Krieg, sondern auch vor bitteren Schicksalsschlägen, Lügen und Geistern der Vergangenheit, von denen sie heimgesucht werden. Die Litauerin, der Ostpreuße und die Polin haben sich mit schweren Schuldgefühlen und jeweils einem dunklen Geheimnis im Gepäck auf den Weg nach Gotenhafen gemacht, um dort auf eines der Flüchtlingsschiffe zu gelangen. Auf ihrer Reise treffen die drei jungen Leute aufeinander und ihre Leben verflechten sich auf schicksalhafte Weise. Auch wenn es anfangs jedem Einzelnen schwerfällt, den anderen zu vertrauen, erkennen sie schnell, dass sie in der Gruppe stärker sind als alleine. Im Gegensatz zu ihnen ist Alfred, der vierte Protagonist, ein Einzelkämpfer: Mit seiner naiven Verehrung Hitlers und dessen Ideologie bildet er den direkten Gegenpart zu den Dreien. Für alle ist die Wilhelm Gustloff ein Silberstreif am Horizont, doch der Schein trügt…
Ruta Sepetys hat mit Salt to the Sea ein unglaublich eindringliches Werk geschaffen, das mit einer poetischen Sprache und liebevoll gestalteten Charakteren glänzt. Aber wenn ich neben diesen beiden (zumindest für mich immer sehr wichtigen) Aspekten etwas noch fast ein bisschen mehr liebe, dann ist es eine gründliche Recherche – und die liegt diesem Roman auf alle Fälle zugrunde! Wie den auf die eigentliche Geschichte folgenden Quellenangaben und Danksagungen zu entnehmen ist, hat Sepetys für ihr neuestes Buch keinen Stein umgedreht gelassen: Für eine möglichst genaue Rekonstruktion der Geschehnisse hat die Autorin in jahrelanger Forschungsarbeit Museen und Schauplätze be- und aufgesucht, Zeugenberichte studiert sowie Experten und Zeitzeugen auf der ganzen Welt interviewt. Und das merkt man auch definitiv der ganzen Geschichte, jeder Seite und sogar den einzelnen Zeilen an! Drastischer und lebhafter geht es wirklich kaum.
Die sich entfaltende Katastrophe wird ganz dicht an den Figuren erzählt: In schnell aufeinander wechselnden Kapiteln schildern die vier Protagonisten ihre Erlebnisse in der Ich-Perspektive. Dieser Umstand erzeugt automatisch eine ungemeine, ja manchmal fast erdrückende Nähe zwischen dem Leser und den Charakteren, deren Gedanken und Herzen geradezu freigelegt werden – zumindest fast. Denn so, wie sich die Figuren anfangs untereinander nicht trauen und sich auch teilweise selbst belügen, so enthüllen sie ihre jeweiligen Geheimnisse auch erst nach und nach gegenüber dem Leser. Kein Wunder, dass dies eine unheimliche Spannung generiert, die bis zum Schluss aufrechterhalten wird. Trotz oder teilweise auch wegen ihrer (eingangs) nebelhaften Vorgeschichten lernt man im Handumdrehen, die vier Protagonisten zu lieben und in einem Fall eben auch zu verabscheuen. Die Detailgenauigkeit und liebevollen Beschreibungen weitet Ruta Sepetys aber auch auf die Nebenfiguren aus und gerade mit der Figur des alten Schuhmachers hat sie bei mir absolut ins Herz getroffen (und es gebrochen).
Zwar erzielen die gerade erwähnten kurzen, zwischen den Protagonisten wechselnden Kapitel ein entsprechendes Tempo, das der Tragik der Geschichte völlig entspricht und diese zusätzlich unterstreicht, mir wären etwas längere Abschnitte manchmal aber doch lieber gewesen. Man hat ja auch seine Lieblinge, über die man einfach am liebsten noch ein bisschen mehr lesen würde – und Sepetys macht sich den starken Effekt von Cliffhangern eben auch nicht nur einmal zunutze. Natürlich hat dieser Hang zu bestimmten Figuren und auch die Neugier in Bezug auf deren Geheimnisse automatisch zur Folge, dass man innerhalb kürzester Zeit eine erstaunliche Anzahl an Seiten gelesen hat. Ich zumindest habe den Roman fast in einem Rutsch gelesen und konnte ihn nicht einmal beim Frühstücken oder Föhnen weglegen – wegen lächerlicher zehn Seiten musste ich es sogar noch mit zur Uni schleppen, weil es einfach nicht anders ging. So oft blutete mir das Herz wegen der Handlung, aber anstatt ihm eine Pause zu gönnen, ließ ich es vergnüglich weiter von dem völlig erschütternden Roman malträtieren.
Das Buch ist auch schnell durchgelesen, weil es recht einfach und unkompliziert geschrieben ist. Allerdings soll „einfach“ nicht bedeuten, dass die Sprache langweilig oder gar schnöde daherkommt, denn das ist absolut nicht der Fall! Sepetys bedient sich hier nämlich einer ungemein poetischen, vielfältigen, atmosphärischen und manchmal sogar gnadenlosen Ausdrucksweise, die mich restlos begeistert hat. Immer wieder tauchen auch bestimmte Motive und Stilmittel in der Geschichte auf, welche die einzelnen Fäden langsam zu einem Ganzen verknüpfen. So beginnen die ersten vier Kapitel mit den folgenden Sätzen: „Guilt is a hunter“ (Joana), „Fate is a hunter“ (Florian), „Shame is a hunter“ (Emilia) und „Fear is a hunter“ (Alfred). Diese winzigen Sätze deuten – auch wenn sie anfangs eher verwirren – das Ausmaß der jeweiligen Schicksale an und werfen, wie man erst später realisiert, ihre Schatten weit voraus. Gerade die Themen „Schicksal“ und „Angst“ spielen in der Geschichte eine sehr zentrale Rolle. Während mir die Handlung also ständig Tränen des Mitgefühls in die Augen trieb, versetzte mich die Sprache oft gleichzeitig in Entzückung. Was für eine bittersüße Angelegenheit!
Auch wenn Salt to the Sea sicherlich keine leichte Kost ist, würde ich den Roman wirklich jedem ans Herz legen und schließe mich damit auch so vielen anderen begeisternden Meinungen an. Das Buch ist schlichtweg lesenswert. Punkt. Nicht nur ist es wegen des Erzählstils und der Sprache ein ganz besonderer Lesegenuss, sondern Salt to the Sea ist auch ein ausgesprochen lehrreicher Roman, der lange, lange nachhallt. Auch ich brauchte mehr als eine Woche, um das Gelesene verarbeiten und halbwegs klare Gedanken dazu fassen zu können. Ich hoffe, das ist mir gelungen und ich konnte den ein oder anderen, der das Buch noch nicht gelesen hat, davon überzeugen, es beim nächsten Besuch in der Buchhandlung in den Einkaufskorb wandern zu lassen, denn dieser Roman ist wirklich jeden Cent wert!
Habt ihr Salt to the Sea bereits gelesen? Wenn ja, wie hat es euch gefallen?
Berichtet mir gerne in den Kommentaren von euren Leseeindrücken!
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Kommentare
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Liebe Elena,
beim Lesen deiner Rezension habe ich Gänsehaut bekommen. Ich habe das Buch auch unheimlich gerne gelesen und es hat mich zutiefst beeindruckt. Deine Rezension macht so lust auf das Buch, dass ich es am liebsten direkt noch mal lesen würde.
Liebe Grüße
Julia
Liebe Julia,
wow, das freut (und ehrt) mich ja wirklich sehr, vielen Dank für diese Worte! 🙂
Ich hoffe, ich kann in dem Fall auch Leute, die es noch nicht gelesen haben, so für das Buch begeistern.
Viele liebe Grüße und dir schöne Osterfeiertage,
Elena