Rezension: “Für Polina” von Takis Würger

Modernes Märchen voller Musik und Magie

Vor knapp acht Jahren betrat Takis Würger mit seinem Debüt Der Club die deutschsprachige Literaturszene fulminant und mit großer Beachtung – und eroberte mit seinem Erstling auch mein Herz im Sturm. Nachdem sich der Autor literarisch zwischenzeitlich an eher historischen und biografischen Themen (den ein oder anderen Wirbel darum inklusive) sowie zuletzt gesellschaftskritischen Geschichten mit Krimipotenzial ausprobiert hatte, kehrt er mit seinem neuesten Werk Für Polina nun wieder zu seinen Anfängen und in vertraute Gefilde zurück und stellt darin sein außergewöhnliches Können eindrücklich unter Beweis. Mit dieser ungewöhnlichen Liebesgeschichte, die deutliche märchenhafte Züge aufweist und auch sonst in vielen Punkten an Der Club erinnert, gleichzeitig jedoch wie eine erwachsenere, gereiftere Version des Debüts daherkommt, ist Würger zweifellos der nächste große Wurf gelungen.

Hannes und Polina wachsen wie Geschwister auf, ihre Mütter Fritzi und Güneş, beide alleinerziehend, sind seit der Geburt ihrer Kinder beste Freundinnen und so werden auch der verschlossene, etwas wunderliche Junge und das quirlige, vor Neugierde und Lebenslust strotzende Mädchen unzertrennlich. Seite an Seite verbringen sie unbeschwerte Kindheitstage in einer abgelegenen alten Villa im Moor, in der auch der kauzige Heinrich Hildebrand lebt, der für beide zu einer Art Ersatz-Vater wird und ihnen den Zauber von Musik und Geschichten näherbringt. Mit den Jahren entdeckt Hannes hier nicht nur ein ungeahnte musikalische Begabung besonders am Klavier, sondern auch immer stärkere Gefühle für seine beste Freundin Polina. Doch diese Idylle findet ein jähes Ende, als seine Mutter bei einem tragischen Unfall stirbt und Hannes daraufhin mit vierzehn Jahren zu seinem Vater in die Stadt ziehen muss, zu dem er davor nur wenig Kontakt hatte. Nach dem Schicksalsschlag verstummt die Musik in Hannes’ Innern und er zieht sich immer mehr zurück. So trennen sich auch unweigerlich Hannes’ und Polinas Wege, ihre einst gehegten gemeinsamen Zukunftspläne platzen und die beiden verlieren sich schließlich endgültig aus den Augen. Nach Jahren, die von Trauer und Einsamkeit geprägt sind und in denen Hannes Klaviere anderer trägt, statt selbst zu spielen, kann er Polina doch nicht vergessen und muss sich letztlich selbst überwinden, um seine große Liebe mithilfe seiner Musik wiederzufinden.

Man könnte nun meinen, dass diese Handlung reichlich Kitschpotenzial birgt, doch das ist bei Für Polina glücklicherweise nicht der Fall. Weder auf der inhaltlichen Ebene noch in sprachlicher Hinsicht driftet Würger hier je ins Triviale ab, ganz im Gegenteil: Wie auch in seinen vorherigen Werken ist die Erzählung pointiert und präzise, Sprache sowie Stil sind einerseits knapp und sachlich, andererseits feingeschliffen und weich. Die Sätze sind nie überladen, jedes Wort sitzt, keines ist zu viel und gleichzeitig steckt darin so viel Inhalt. So viele Sätze gehen ungemein in die Tiefe und treffen oft direkt ins Herz. Wer bereits Romane – und hier insbesondere Der Club – von Würger gelesen hat, erkennt dessen ganz eigenen Sound wieder, wobei der Autor diesen in seinem neuesten Werk geradezu zur Vollendung führt. Dank der feinen, detailreichen Beschreibungen und des atmosphärischen Schreibstils wird man direkt in die Geschichte teleportiert und hat beispielsweise das Gefühl, man säße mit Hannes und Polina zusammen inmitten der Rhabarber-Sträucher im Garten der alten Moorvilla. Textstellen wie diese oder einzelne Sätze muss man aufgrund ihrer Schönheit dann direkt zweimal lesen und für die Ewigkeit markieren – und davon gibt es reichlich in dem Roman, sodass am Ende eine stattliche Sammlung an brillanten Zitaten entsteht, zu denen unter anderem folgende Textabschnitte zählen:

Sie lebten in jedem Atemzug, ohne den Versuch, das Vergangene zu begreifen, und ohne die Sorge vor der Unendlichkeit der Möglichkeiten, die das Leben für sie im Köcher hielt. (S. 53)

Er dachte über die Unmöglichkeit nach, überhaupt irgendjemanden auf der Welt zu trösten. Weinend hing die Frau an ihm wie ein Kind, das etwas verloren hat. Er spürte ihre Wärme. Trost war vielleicht nur ein anderes Wort für Ablenkung. Heilung lag nur in den Menschen selbst. (S. 164)

[…] und der Umstand, dass nun etwas nicht mehr ging, was er gestern ums Verrecken zu vermeiden versucht hatte, füllte Hannes mit Trauer wie ein Krug unter dem laufenden Wasserhahn. (S. 204f.)

Hannes spielte, und die Menschen hörten ihn, als hörten sie Licht. […] Es war keine Zauberei. Oder vielleicht doch. Wann war Musik jemals etwas anderes als Zauberei? (S. 222)

[…] ob er jemals verstehen würde, was das ist – Liebe. Vielleicht ist es die Hoffnung auf einen Menschen, der uns versteht. Vielleicht ist es auch eine Hoffnung, ohne die das Leben unerträglich wäre: dass am Ende – trotz aller Verletzungen und Fehler und Irrungen und Missverständnisse und Dummheiten –, dass am Ende alles gut werden wird. Vielleicht ist Liebe nur ein anderes Wort für Hoffnung. (S. 289)

Für Polina lebt jedoch nicht nur von Würgers einzigartiger Sprache, sondern vor allem von seinen Figuren, von denen der Autor (fast) jede einzelne mit einer Zärtlichkeit und Sorgfalt gezeichnet hat, wie man sie nur selten in einem solchen Ausmaß in Romanen antrifft – und das gilt sowohl für die Haupt- als auch die Nebenfiguren. Bis zu einem gewissen Grad entziehen sich sowohl der stille Hannes und die so weltoffene, aber gleichzeitig auch unnahbare Polina dem/der Leser:in zwar bis zuletzt – schließlich macht der gewisse „Mysteryfaktor“ jedoch ihren jeweiligen Charakter und auch ihre Beziehung zueinander aus –, dennoch wirken alle ihre Gedanken und Gefühle authentisch und man erlebt sie als Leser:in unmittelbar mit. Mit liebevoller Akribie und noch mehr Wärme haucht Takis Würger seinen Figuren Leben ein und zeigt sie mit all ihren Ecken und Kanten, denn sie alle sind auf eine liebenswerte Art verschroben und damit einmalig. Das gilt insbesondere auch für viele Nebenfiguren, darunter Hannes’ Mutter Fritzi, seinen späteren Freund Bosch und, allen voran, der herrlich kauzige und umso herzigere Heinrich Hildebrand: Man kann sie allesamt in all ihrer unvergesslichen Einzigartigkeit nur ins Herz schließen. Lediglich ein paar wenige Figuren, wie zum Beispiel Hannes’ Vater, dessen Partnerin sowie Leonie, schrammen im Vergleich etwas zu sehr an der Klischeegrenze, weshalb diesen Charakteren ein klein wenig mehr Raum in der Geschichte vielleicht noch gut getan hätte.

Andererseits wäre dann womöglich noch weniger Platz für die zentrale(re)n Figuren der Geschichte – und hier natürlich insbesondere Hannes und Polina – gewesen, dabei wünscht man sich als Leser:in am Ende ohnehin schon, man hätte noch mehr Zeit mit ihnen verbringen können. Und genau dieser Umstand ist vermutlich auch der (wohlgemerkt einzige!) Wermutstropfen an dieser wunderschönen, tragischen und dennoch oder vielleicht auch gerade deshalb  wohltuenden, ja fast heilenden, leider jedoch viel zu kurzen Märchengeschichte: Bis zum Schluss habe ich beim Lesen eine nicht genauer zu benennende Abwesenheit, ein Fehlen verspürt, und nach längerem Überlegen kann ich diesen Leseeindruck nur damit erklären, dass die Zeit in Hannes’ und Polinas Welt und die Zeit mit ihnen schlicht zu kurz war – und was für ein genialer Kniff ist das bitte, dass der Autor uns Leser:innen dadurch quasi selbst zumindest annähernd die Sehnsucht, die Trauer und den Schmerz, den insbesondere Hannes durchlebt, fühlen lässt?

Und so traurig und melancholisch die Geschichte bisweilen tönt und scheinen mag, so hoffnungsvoll ist Für Polina letzten Endes: So sehr sich die Geschichte auf den ersten Blick um große und (vermeintlich) kleine Verluste dreht, geht es auch um Liebe in all ihren Facetten, Freundschaft, Selbstfindung, Heimat, Träume und den Mut, dem eigenen Herzen zu folgen – und nicht zuletzt, als Essenz des ganzen Romans, um die Kraft der Musik. Wenn man so will, kann man Für Polina sogar als ein Loblied auf die Musik selbst lesen. Und tatsächlich steckt zwischen den Zeilen auch so viel Musik, sodass der Roman für sich singt und klingt und damit im Leser:innenherz noch lange nachklingt – und zwar ganz genauso, wie von Würger selbst beschrieben: „Hannes, dieser große Musiker und kleine Denker, verstand endlich, dass genau darin die Schönheit der Musik liegt. Nicht nur in den Noten, die zu Schallwellen werden, sondern auch im Nachhall im Inneren, der bei jedem anders ausklingen darf.“ (S. 270) Dass Literatur das ebenfalls leisten kann, führt Takis Würger in Für Polina eindrücklich und mit viel Herzblut vor.

Werbung – Vielen Dank an dieser Stelle an den Diogenes Verlag für das Leseexemplar und die Möglichkeit, dieses Buch besprechen zu dürfen.

Kommentare

Kommentar verfassen

Ich akzeptiere die Datenschutzbestimmungen.