Rezension: “Kleine Paläste” von Andreas Moster

„The grass is always greener on the other side” – oder doch nicht?!

Blumige, leicht dramatisch anmutende Buchcover? Eher nicht so meins, da sind mir subtilere Covergestaltungen eigentlich lieber. Was jedoch geheimnisvolle, ambivalente und offensichtlich deutungsbeladene Buchtitel betrifft, da gehe ich schon eher mit. An neuen, (zumindest mir) noch relativ unbekannten Autor*innen bin ich sowieso immer interessiert, und so war meine Neugier geweckt, als ich im vergangenen Sommer auf Kleine Paläste von Andreas Moster gestoßen bin. Lediglich dreizehn Wörter – nämlich den allerersten Satz – hat es beim Probelesen gebraucht, um mich in die Geschichte zu ziehen, und nach dem Prolog war es dann komplett um mich geschehen: Der lakonische, zynische Erzählton, die schiere Skurrilität der geschilderten Szenerie sowie eine noch nicht ganz auszumachende düstere, atmosphärische Grundstimmung gepaart mit einer imposanten Sprachgewalt, die einen direkt umhaut, trafen bei mir – sprichwörtlich – ins Schwarze und die darauffolgenden Kapitel versprachen noch mehr davon. Dieses Buch musste ich (weiter-)lesen! Und mein von Anfang gutes Gefühl bezüglich des Romans sollte mich nicht trügen: Kleine Paläste wurde für mich zu einem absoluten Lesehighlight im vergangenen Jahr.

Über 30 Jahre ist es her, dass Hanno Holtz und Susanne Dreyer quasi Tür an Tür zusammen aufwuchsen und eigentlich unzertrennlich waren. Ihre beiden Familien waren (vordergründig) eng verbunden. Doch nach einem gemeinsamen Sommerfest im Jahr 1986 nahm die vorgebliche Kleinstadtidylle ein jähes Ende, der Kontakt zwischen den Familien brach abrupt ab und wenig später zog es den inzwischen volljährigen Hanno weg von den heimatlich-elterlichen Gefilden in die weite Ferne. Susanne hingegen blieb all die Jahre am selben Ort, sogar im selben Haus, in dem sie nach dem Tod ihrer Eltern mittlerweile alleine lebt. Nun sehen sich die Beiden nach Hannos jahrzehntelanger Abwesenheit wieder, denn nach dem plötzlichen Tod seiner Mutter Sylvia ist dieser wieder nach Hause zurückgekehrt, um seinen an Alzheimer erkrankten Vater Carl zu betreuen, der auf Hilfe angewiesen ist. Sichtlich getrieben von einer für den/die Leser*in zunächst noch unergründlichen Form von Besessenheit, hatte Susanne vom Nachbarhaus aus stets das Geschehen im Hause Holtz all die Zeit genauestens im Blick und wird auch gegenwärtig Zeugin von den neuen (alten?) Problemen im Haus nebenan: Vater und Sohn sind mit der neuen, für beide ungewohnten Situation völlig überfordert. Susanne bietet Hanno deshalb kurzum ihre Unterstützung im Haushalt und bei der Pflege Carls an – dabei scheint ihre Haltung Letzterem gegenüber seit jenem Sommertag ’86 mehr als undurchsichtig, ja fast schon obskur. So holt die Vergangenheit die beiden Familien ein für alle Mal ein, als alte Erinnerungen hochkommen, noch längst nicht verheilte Wunden aufreißen und lange Verdrängtes sowie Unausgesprochenes zu Tage tritt, bis das Kartenhaus letztlich in sich zusammenstürzt und damit den Blick freigibt auf das desolate Gerüst einer kläglichen Inszenierung und die Spuren, die diese bei den Beteiligten hinterlassen hat.

Betrachtet man die Thematik des Buches, fällt Kleine Paläste für Viele wohl nicht ganz in die Kategorie „Bücher, die man in den Koffer für den Urlaub am Meer einpackt“, aber für mich hätte es tatsächlich kaum eine bessere Strandlektüre – geschweige denn ein passenderes Setting fürs Lesen – geben können (auch wenn ich sowieso grundsätzlich kein Fan von Wohlfühlliteratur bin): Während um mich herum das Wasser Sand- und Steinburgen umspülte und drohte, einzelne davon zu zerstören und mit sich fortzureißen, verlor ich mich immer weiter im Sog einer Geschichte, in der es genau um das allmähliche Abtragen der Fassaden und den letztendlichen Einsturz von den kleinen und großen „Palästen“ geht, die man teilweise zum eigenen Schutz und vermeintlich zum Schutz seiner Liebsten, aber auch zur Bewahrung des Scheins nach außen erbaut hat. Und obwohl sommerliche Temperaturen herrschten und die Sonne schien, lief es mir beim Lesen manchmal dennoch eiskalt den Rücken hinunter und ich konnte mich der mitunter durchaus frostigen, auf alle Fälle düsteren Atmosphäre des Romans nur schwer entziehen.

Dabei ist Kleine Paläste ein ruhig erzähltes Buch mit einer subtilen Spannung, die volle Wucht der Geschichte entfaltet sich erst allmählich, hallt danach jedoch umso länger nach. Was mich an Andreas Mosters Roman jedoch viel mehr faszinierte als die Handlung an sich waren der ausgefeilte Aufbau sowie vor allem Sprache und Stil. Zwei Zeitebenen (1986 und 2018) und drei verschiedene Erzählperspektiven – nämlich die zweier lebender Charaktere und einer bereits verschiedenen Figur – lassen nach und nach ein Mosaik aus Beziehungskonstellationen, Gedanken- und Gefühlslagen sowie vergangenen und neueren Ereignissen entstehen und legen mehr und mehr das psychologische Konstrukt hinter jener tragischen (Nachbars-)Familiengeschichte frei, die Moster hier auf eine so virtuose und kunstfertige Weise erzählt. So ist beispielsweise die dritte Perspektive – die Sicht der jüngst verstorbenen Sylvia Holtz – nicht etwa, wie man es vielleicht zunächst vermuten würde, in der Vergangenheit angesiedelt, sondern in der Gegenwart, in der die Verschiedene nun irgendwo zwischen dem Dies- und dem Jenseits das Geschehen beobachtet und kommentiert. Zwar ist es ihr schlicht unmöglich, einzugreifen, die Sprache hat es ihr trotz all der nun auferlegten Handlungsunfähigkeit, die sie im Übrigen teilweise auch schon zu Lebzeiten bewiesen hatte, jedoch bei Weitem nicht, im Gegenteil: Geister-Sylvia sinniert und philosophiert, frotzelt und gibt ihren Senf auf eine höchst amüsante und zynische Weise zum Besten, dass es besonders für alle Freunde schwarzen Humors eine wahre Freude ist. Und so waren mir Sylvias Passagen auch die liebsten im Roman, auch wenn ich sonst auf jegliche übernatürlichen Elemente in Büchern schnell ziemlich allergisch reagiere. Allein der bereits eingangs erwähnte Prolog, in dem sie das von ihrem Hund offenbar von langer Hand geplante, letztlich für sie tödliche Attentat filmreif schildert, wird für mich unvergessen bleiben. Der Einstieg in diese fulminante Szene geht übrigens so: „Es ist nicht das erste Mal, dass der Hund versucht, mich zu ermorden.“ Wow! Zugegebenermaßen skurril und eigen, aber eben auch brillant und einzigartig.

Viele weitere Textstellen haben mich ähnlich begeistert wie diese, wovon unzählige Klebezettel an den Seitenrändern nun zeugen. Andreas Mosters wunderbar bildgewaltige Sprache voller Poesie und Weisheit, Melancholie und Komik, sein Blick fürs Detail und sein unnachahmliches Gespür für den Subtext haben mich mehr als nur überzeugt. Zudem legt der Autor eine bewundernswert präzise Beobachtungsgabe sowie eine große Feinfühligkeit hinsichtlich heikler Themen wie Trauma, Missbrauch, (Selbst-)Täuschung, Neid und Trauer zu Tage und beweist trotz der Ernsthaftigkeit der Thematik bisweilen einen herrlich frischen Humor. So gelingt es ihm auch auf beispiellos zynische Weise, das kleinstädtische Spießbürgertum meisterhaft vorzuführen, ihm den eigenen Spiegel vorzuhalten, es schlussendlich mit größtem Vergnügen in seine Einzelteile aus Missgunst, Selbstinszenierung und Prahlerei zu zerlegen und dabei die menschlichen Abgründe sowie gescheiterten Existenzen dahinter zu beleuchten. Wenn man selbst in einem dörflich-kleinstädtischen Umfeld aufgewachsen ist, kommt einem Vieles von dem, was Andreas Moster in Kleine Paläste so gekonnt schildert, zudem nur allzu bekannt vor: Angefangen beim neidischen Blick in Nachbars Garten, wo die Kirschen ja bekanntlich immer süßer schmecken, über das Beobachten, Mutmaßen und Vergleichen bis hin zum verzweifelten Versuch, möglichst einen makellosen Schein nach außen zu bewahren – gelegentlich auch um jeden Preis.

Darüber hinaus animiert nicht nur diese Thematik, sondern auch die jeweilige Position der einzelnen Figuren die/den Leser*in auch dazu, die eigene Definition von „Heimat“ bzw. „Zuhause“ zu reflektieren. Hanno beispielsweise zog es mit jungen Jahren in die Fremde, scheinbar möglichst weit weg von daheim, irgendwo richtig angekommen und sesshaft geworden ist er, der ewig Rastlose, in der Zeit jedoch nie. Gleichzeitig fühlt er sich nach jahrzehntelanger Abwesenheit auch zurück im Elternhaus (be)fremd(end). Das andere Extrem ist Susanne, die ihr elterliches Nest nie verlassen hat, demnach nichts anderes kennt als dieses Haus, diese Stadt und ihre Menschen, und doch führt auch sie kein glückliches Leben. Ganz zu schweigen von Sylvia, für die auch ein rundum renoviertes und perfekt eingerichtetes Haus keine Garantie für ein erfülltes (Familien-)Leben war. Alle Drei können sich nicht (wirklich) aus ihren teils selbstgebauten, teils aufgezwungenen palastartigen Gefängnissen befreien und erweisen sich als angeknackste, bisweilen unergründliche und vor allem komplexe Persönlichkeiten – oder wie es der Autor ganz prägnant selbst beschreibt: „[…] Erwachsene[…], angehauen und beschädigt von der Zeit“ (S. 113) –, die es der/dem Leser*in nicht immer leicht machen, sie zu mögen, mit denen man jedoch in der Regel, wenn auch nicht in allen Fällen, durchaus mitfühlen kann.

In Andreas Mosters Kleine Paläste dreht sich viel um Verdrängtes, Unwiederbringliches sowie Unausgesprochenes und welche Folgen solch ein schwerer, zerdrückender Ballast mit sich bringen kann. Und auch wenn bei mir relativ bald eine grobe Vermutung darüber aufkam, was an besagtem Sommertag im Jahr 1986 in etwa vorgefallen sein musste und letztlich einen mehr oder weniger unsichtbaren Keil zwischen die Familien Holtz und Dreyer getrieben hatte, konnte mich der Roman ununterbrochen über alle 300 Seiten hinweg fesseln. Der Grund dafür waren besonders seine außergewöhnliche Machart, seine sprachliche Wucht und Andreas Mosters wahrlich brillante wie auch feinsinnige Erzählkunst. Das auf die Tief- und gewissermaßen auch Abgründigkeit der Geschichte perfekt abgestimmte Maß an Skurrilität und schwarzem Humor war für mich das Sahnehäubchen obendrauf. Ein auf vielen Ebenen bereicherndes Leseerlebnis, für das ich sehr dankbar bin, und ein wirklich herausragender Roman, dem ich noch viele begeisterte Leser*innen wünsche.

Werbung – Vielen Dank an dieser Stelle an den Arche Verlag für das Leseexemplar und die Möglichkeit, dieses Buch besprechen zu dürfen.

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