Rezension: “Nach Mattias” von Peter Zantingh

Von Abschieden und Neuanfängen

Wie wird man mit einem großen Verlust fertig? Wie geht man mit der dadurch entstandenen Leerstelle um? Und wie soll bzw. kann man nach einem Schicksalsschlag, nach solch einer Zäsur bloß weitermachen? In den vergangenen Monaten sah ich mich mit diesen Fragen zwangsweise konfrontiert und das war auch der Grund, weshalb es hier so still war. Dann erreichte mich Ende des Jahres ein Leseexemplar eines Buches, das sich genau um diese Fragestellungen dreht: Es handelte sich um Nach Mattias, das vielversprechende deutsche Romandebüt des niederländischen Journalisten Peter Zantingh. Nicht nur wegen der Thematik, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass Musik darin eine wichtige Rolle spielt und Zantingh laut Verlag etwas an Benedict Wells erinnere, weckte Nach Mattias bei mir große Erwartungen, die allerdings leider nicht in Gänze erfüllt wurden.

„Ach diese Lücke! Diese entsetzliche Lücke […]!“ Dieser bekannte Ausruf von Goethes Werther geisterte mir im vergangenen Jahr aus bestimmten Gründen immer wieder im Kopf herum und er kam mir auch bei der Lektüre von Nach Mattias wieder in den Sinn, denn er beschreibt gewissermaßen auch den Schmerz, den die acht von Zantingh skizzierten Figuren spüren, auch wenn der Grund dafür ein anderer ist als in Werthers Fall: Der plötzliche Tod des titelgebenden Mattias hat eine Lücke im Leben seiner Angehörigen und Freunde hinterlassen und bei einigen anderen Menschen, die ihn nur flüchtig oder indirekt kannten, eine Leerstelle zum Vorschein gebracht – und sie alle versuchen nun, auf ihre ganz eigene Art damit umzugehen. Indem der Leser die einzelnen Charaktere nacheinander auf Stationen ihres Trauerprozesses begleitet, erfährt er auch immer mehr darüber, was für ein Mensch Mattias war, was letztendlich mit ihm passiert ist und welche Spuren er im Leben anderer hinterlassen hat.

Zantinghs Roman skizziert die vielen verschiedenen Gesichter von Trauer auf anschauliche Weise. Zum einen wäre da beispielsweise Amber, Mattias‘ Freundin, der das Anfangs- und das Schlusskapitel gewidmet sind. Sie kämpft mit Schuldgefühlen, weil sie und Mattias vor dessen überraschendem Tod im Streit auseinandergegangen sind, wird von vermeintlichen Kleinigkeiten, wie zum Beispiel einem herausgerutschten Lesezeichen in einem zuletzt von Mattias gelesenen Buch, aus der Bahn geworfen und findet dann doch Trost und Befreiung an einem Ort, an dem sie es nicht erwartet hatte. Dann treffen wir auf Quentin, der nicht nur seinem besten Freund, sondern auch ihrem gemeinsamen Plan, ein eigenes Café, in dem zu Kaffee und Kuchen individuelle Playlists mit Musikempfehlungen serviert werden, hinterhertrauert. Um mit seiner Trauer irgendwie zurande zu kommen, beginnt er mit exzessivem Laufen und tritt damit unverhofft in das Leben des nahezu blinden Chris – ohne zu ahnen, wie bedeutsam diese Begegnung für beide sein wird. Anhand von Mattias‘ Großeltern Riet und Hendrik sowie dessen Eltern Kristianne und Jacob zeigt Peter Zantingh zudem auch, was für eine Belastung ein Trauerfall für Beziehungen sein kann, aber auch was für Chancen er bietet, (gemeinsam) neue Wege zu gehen. Und nicht zuletzt sind der Alkoholiker Nathan, der einsame Roadie Issam und eine Mutter namens Tirra Beispiele dafür, was für große Auswirkungen scheinbar zufällige und noch so kurze Überkreuzungen von einzelnen Lebenswegen manchmal haben können.

Der Zugang zu den verschiedenen Figuren fiel mir mal leichter und mal schwerer und nicht alle Geschichten haben mich gleichermaßen mitgerissen. So habe ich beispielsweise die Kapitel über Amber, Nathan und die Großeltern eher unbeteiligt oder gar ungeduldig gelesen, Quentins und Chris’s Schicksale hingegen interessiert verfolgt. Am meisten bewegt haben mich jedoch die Einblicke in die Lebenswege von Kristianne, Tirra und Issam. Bei Letzterem hat mir besonders gut gefallen, dass anhand dessen Verbindung zu Mattias verdeutlicht wird, dass auch scheinbar noch so kleine Gesten manchmal große Kreise ziehen können und auch der Tod eines Menschen, den man nicht zwangsläufig persönlich kannte, tiefe Trauer auslösen kann.

Mattias blieb allerdings trotz allem eine schemenhafte Gestalt für mich. Durch Rückblicke und die Schilderungen und Erinnerungen verschiedener Charaktere erfährt man mit der Zeit zwar immer mehr über ihn, sodass sich allmählich eine Art Bild aus den einzelnen Mosaiksteinchen ergibt, doch für mich war es am Schluss immer noch zu lückenhaft, um behaupten zu können, Mattias darin erkennen zu können. Genauso fragen sich ja auch einige Figuren im Buch, ob sie Mattias überhaupt je richtig gekannt haben. So kam bei mir beim Lesen gelegentlich die Frage auf, ob Mattias wirklich so war, wie ihn seine Mitmenschen gesehen haben, oder ob er auf eine bestimmte Weise wahrgenommen werden wollte. Hier schließt der Gedanke an, wie man letztendlich in der Erinnerung anderer bleiben möchte und welche Geschichte am Ende von einem selbst bleibt.

Für mich spielt Musik eine elementare Rolle und ich bin mir sicher, dass meine Familie und Freunde diese große Leidenschaft auch stets mit mir und meinem Leben in Verbindung bringen werden. Umso mehr hat es mich gefreut, dass Peter Zantingh Musik in seinem Roman einen hohen Stellenwert eingeräumt hat. Wer also wie Zantingh seinem Werk ein Zitat des wunderbaren irischen Singer/Songwriters Glen Hansard voranstellt und es mit einer passenden Playlist schließt, der bekommt von mir schon einmal eine Handvoll Extrapunkte – und wenn auf jener Playlist dann noch Lieblingssongs wie „Fake Empire“ von The National und gern gehörte Musiker und Bands wie Sufjan Stevens, Simon & Garfunkel, Death Cab For Cutie, Wir sind Helden oder eben Glen Hansard auftauchen, dann feiere ich das umso mehr. Dennoch hätte ich mir gewünscht, dass diese Musik auch mehr in den Roman miteinbezogen worden wäre. Immerhin bestätigt Quentin relativ am Anfang des Romans Mattias darin, dass das Album Fake Empire von The National „echt gut“ ist – na aber hallo ist es das! Markiert habe ich mir in diesem Zusammenhang auch folgende Stelle, weil mir Mattias‘ Verhalten hier nur allzu bekannt vorkommt:

„Er hatte genau im Kopf, wann seine Lieblingsstelle in einem Musikstück kam. Schon ganz früh. Dann rief er mich. Pass auf, Mam. Erhobener Finger. Und dann trat eine Veränderung ein, ein Gitarrenlauf kam dazu, ein Refrain machte eine Wendung. Hörst du, Mam?“ (S. 160)

Aber auch abgesehen vom Inhalt ist diese Textstelle interessant, denn sie ist ein gutes Beispiel für Zantinghs schnörkellosen, lakonischen Schreibstil. Der Autor hält sich stets auffällig kurz und verwendet nur so viele Wörter wie unbedingt nötig. Für jemanden wie mich, die besonders auf Sprache und Stil achtet und es gerne ausschweifend und vor allem in die Tiefe gehend mag, ist diese Schreibe entsprechend gewöhnungsbedürftig. Ich empfand Zantinghs Stil größtenteils als eher grob, abgehackt und kalt, weshalb der Vergleich mit Benedict Wells – abgesehen von den leichten thematischen Überschneidungen – zumindest für mich nicht funktioniert. Der Schreibstil war letztendlich auch der Grund, weshalb mich Nach Mattias nicht so sehr mitreißen konnte, wie ich es mir erhofft hatte, aber gerade dieser Aspekt hängt ja zum Glück immer stark vom persönlichen Geschmack ab.

Auch wenn mich Nach Mattias nicht in allen Punkten überzeugen konnte, so hat mir Peter Zantingh mit seinem ungewöhnlichen Roman über Verlust, Schmerz, Trauerbewältigung, Resilienz und Lebensmut nochmals eindrücklich gezeigt, dass es immer weitergeht. Außerdem hat er nicht zuletzt auch Folgendes geschafft – und darüber bin ich sehr froh: Ich bin endlich wieder hierher an meinen alten Wohlfühlort zurückgekehrt, habe die Staubdecke gelüftet und den ersten Beitrag in acht Monaten sowie die erste Rezension in fast genau einem Jahr geschrieben. Ein Abschied und Neuanfang zugleich.

Werbung – Vielen Dank an dieser Stelle an den Diogenes-Verlag für das Leseexemplar und die Möglichkeit, diesen Roman lesen zu dürfen.

Bonus: Meine persönliche Playlist zum Thema und Buch

The National – Quiet Light
Coldplay – O
Damien Rice – Cold Water
Elbow – Weightless
Gregory Alan Isakov – If I Go, I’m Goin
Keane – Watch How You Go
Lisa Hannigan – We, the Drowned
Snow Patrol – An Olive Grove Facing the Sea
Coldplay – Everglow
Travis – Reminder
Bear’s Den – Crow
Passenger – Holes
U2 – Walk On
Frightened Rabbit – Floating on the Forth
Editors – Well Worn Hand
The National – About Today
Chip Taylor – On the Radio

Kommentare

  1. Silke Antelmann

    Liebe Frau Wiest,
    vielen Dank für Ihre sehr schöne Buchbesprechung! Sie hat mir sehr gut getan, ohne, dass ich Ihnen jetzt den Grund dafür nennen könnte. Wahrscheinlich, weil sie mich positiv berührt hat. Ich wünsche Ihnen noch viele gut gelüftete Geschichten!
    Herzliche Grüße
    Silke Antelmann

    1. Liebe Frau Antelmann, ganz herzlichen Dank für diesen schönen Kommentar und Ihre lieben Wünsche – ich habe mich wirklich sehr darüber gefreut! Auch Ihnen wünsche ich weiterhin viele wunderbare Bücher und Geschichten, bleiben Sie gesund! Herzliche Grüße vom Bodensee 🙂

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