Rezension: “Wintersonne” von Katrine Engberg

Insgel(un-)glück auf Bornholm

Unter allen Herbst/Winter-Neuerscheinungen war Wintersonne wohl diejenige, der ich mit der meisten Spannung, aber vor allem größten Wehmut entgegenblickte, immerhin sollte das das vorerst letzte Wiedersehen mit Katrine Engbergs kongenialem Kopenhagener Ermittlerduo Werner & Kørner werden. Seit dem Erscheinen von Krokodilwächter, dem ersten Teil der Krimiserie, sind mir Engbergs Figuren und auch ihr Erzählstil über die Jahre nämlich extrem ans Herz gewachsen. Auch im neuesten und letzten Fall für Anette und Jeppe, der die Leser:innen diesmal auf die dänische Urlaubsinsel Bornholm führt, findet sich Vieles von dem wieder, was mich bereits an den vorherigen Bänden begeistert hat, dennoch ist auch so Einiges ganz anders – und das hat für mich teilweise ziemlich gut, teils etwas schlechter funktioniert und mich am Ende, gerade auch im Hinblick auf den (scheinbaren?) Abschluss der Serie, etwas zwiegespalten zurückgelassen.

In Kopenhagen sorgt ein grausiger Fund für Aufsehen: In der Nähe eines Spielplatzes wurde ein alter Koffer entdeckt, in dem sich die bereits stark verweste Körperhälfte einer zersägten Männerleiche befindet. Von der anderen Hälfte fehlt zunächst jede Spur und die Identifikation des Leichnams gestaltet sich als äußerst schwierig. Anette Werner leitet die Ermittlungen und geht diversen Vermisstenfällen nach, um dem unbekannten Toten und dessen Mörder auf die Spur zu kommen. Ihr Kollege Jeppe Kørner hat sich derweil eine Auszeit vom Polizeidienst genommen: Er verdingt sich über den Winter als Forstarbeiter eines Sägewerks auf Bornholm und versucht, durch die körperliche Arbeit und in der Abgeschiedenheit der Insel eine schmerzhafte Trennung zu verarbeiten und etwas Abstand zu seinem Leben in Kopenhagen zu gewinnen. Dieses holt ihn jedoch früh genug wieder ein – nicht zuletzt dank seiner guten Freundin Esther de Laurenti, die es aufgrund eines neuen Buchprojekts ebenfalls auf Bornholm verschlagen hat: Sie recherchiert für die Biographie der verstorbenen Anthropologin Margarethe Dybris und hat sich dafür in deren Haus einquartiert, das nun von Dybris’ Tochter Ida und deren Bruder Nikolaj bewohnt wird. Von Letzterem fehlt jedoch seit geraumer Zeit jede Spur und Esther bittet ihren alten Freund, Nachforschungen zu Nikolajs Verbleib anzustellen. Als schließlich alle Fährten hinsichtlich des mysteriösen Kopenhagener Leichenfunds nach Bornholm weisen, reist auch Anette Werner auf die beliebte dänische Urlaubsinsel, die im Winter jedoch verlassen und trostlos daherkommt und sich genauso wie einige ihrer Bewohner eher abweisend und weniger gastlich gibt. Nur mit vereinten Kräften gelingt es Engbergs Trio Werner, Kørner und de Laurenti mit Unterstützung der überraschend patenten Bornholmer Polizistin Ditte Vollmer letztendlich, sich einen Weg durch die Beziehungsgeflechte, Intrigen und dunklen Geheimnisse so mancher Inselbewohner zu bahnen und Stück für Stück die Wahrheit ans Licht zu befördern. 

Zugegeben, der Anfang von Wintersonne ist in der Tat nichts für schwache Nerven, wird hier doch beschrieben, wie ein den Leser:innen noch unbekannter gefesselter Mann in den Abgrund in Form eines laufenden Sägeblatts blickt, auf das er sich immer weiter zubewegt. Eine blanke Horrorvorstellung! Katrine Engberg wäre schließlich nicht Katrine Engberg, gäbe es hier mit dem zersägten Toten im Koffer nicht wieder einen spektakulären Leichenfund – man erinnere sich nur beispielsweise an die Leiche im Kronleuchter der Kopenhagener Oper aus Krokodilwächter oder den Toten in der Müllverbrennungsanlage aus Das Nest. Beinahe schon ganz nach alter Engberg-Manier wird im Buch danach jedoch nicht mehr Blut vergossen – oder zumindest nicht mehr literweise –, da sich die Autorin lieber auf die psychische Ebene hinter etwaigen Gewalthandlungen konzentriert, statt diese plastisch zu beschreiben. Wie die Dänin mit den Vorgängerbänden der Krimireihe auch bereits immer wieder bewiesen hat, bedeutet dies jedoch nicht, dass es nicht spannend wird, denn Nervenkitzel entsteht hier vor allem durch Engbergs unglaublich atmosphärischen Erzählstil: Als Leser:in scheint man so fast selbst in die messerscharfen Klingen der sich unaufhörlich nähernden Kreissäge zu blicken oder eine dunkle Gestalt hinter dem eigenen Rücken durch das leere, totenstille Haus huschen zu hören.

Dennoch will die Geschichte auch in Wintersonne wie bereits in seinem Vorgänger Das Nest in Sachen Spannung nicht so ganz in Fahrt kommen bzw. sich über die ganze Erzählung hinweg kontinuierlich halten, wie es in den ersten drei wirklich grandiosen Bänden der Reihe noch der Fall war. Das liegt zum einen daran, dass die Ermittlungen eher gemächlicher voranschreiten und Engberg dafür den Fokus erneut eher auf Orts- und Landschaftsschilderungen sowie besonders auch auf gesellschaftliche Aspekte und Charakterbeschreibungen legt. Das trägt zwar zur dichten Atmosphäre des Romans bei, geht zuweilen jedoch auf Kosten der Spannung. Zum anderen wird die eigentliche Handlung, also die Erzählebene in der Gegenwart, nach den ersten paar Kapiteln um  eine zweite Erzählebene in Form von alten Briefen, die sich auf Begebenheiten in der Vergangenheit beziehen, ergänzt. Für mich hat dies zwar zum größten Teil funktioniert, denn schnell wird natürlich klar, dass hier ein Zusammenhang zwischen den beiden Handlungsebenen bestehen muss und die Inhalte von Margarethes Briefen für die letztendliche Lösung des Falles eine Rolle spielen, dennoch fühlen sich die Briefepisoden beizeiten und besonders anfangs teilweise als Unterbrechung der tatsächlichen Handlung an und es dauert durchaus, bis sich alles zu einem Ganzen fügt – auch wenn am Ende natürlich alles wieder perfekt zusammenpasst.

Aber was wäre die Kopenhagen-Reihe ohne Engbergs plastische, liebenswerte und zutiefst menschlichen Figuren und hier natürlich allen voran Anette, Jeppe und Esther? Leser:innen und Fans der Serie kommen auch hier wieder voll auf ihre Kosten: Man fühlt mit Jeppe, den die Autorin hier treffend als einen „[z]u gleichen Teilen Melancholiker und jubelnde[n] Idiot[en]“ (S. 366) beschreibt, der vor den Scherben einer zerbrochenen Beziehung steht und noch immer unter der Trennung zu leiden scheint, würde am liebsten zusammen mit Esther ein Glas Wein trinken und gemeinsam um den alten Gregers trauern, und fiebert unmittelbar mit Anette mit, die mal wieder versucht, alles alleine zu schaffen und schließlich doch lernt, Hilfe anzunehmen bzw. anderen eine Chance zu geben. Neben diesem Trio tun sich in Wintersonne vor allem noch zwei weitere spannende Figuren hervor: Jeppes betagter Bornholmer Nachbar Orna, dem er gelegentlich unter die Arme greift, und  Ditte, Anettes neue Kollegin auf Zeit, die Engberg bei ihrem ersten Auftritt folgendermaßen charakterisiert:

Ihre Augen waren groß und hell, das Gesicht ungeschminkt und jung. Sie sah aus wie jemand, der an irgendetwas schwer zu tragen hat und nie mit offenem Mund lächelt. Sie sah aus wie jemand, der abends Sit-ups vor dem Fernseher macht. Sie sah aus wie Anette vor zwanzig Jahren, nur im Miniaturformat. (S. 213)

Bei beiden Neulingen kommt man nicht umhin, sie ins Herz zu schließen, auch wenn Orna natürlich kein Ersatz für Gregers ist genauso wie Ditte auch Jeppe nicht an Anettes Seite ersetzen kann. Trotzdem hat besonders das etwas eigenwillige und doch harmonische Wechselspiel zwischen Anette und Ditte etwas für sich. Überhaupt lebt Wintersonne fast noch mehr als seine Vorgänger von sehr starken Frauenfiguren: Neben Anette und Ditte sind hier auch Ida und Margarethe Dybris zu erwähnen, die innerhalb einer stark von Männern dominierten Gesellschaftsstruktur auf einer kleinen Insel für sich und ihre Werte einstehen. Trotz aller Frauenpower kommen Fans der Reihe nicht umhin, ein ganz entscheidendes Element für den größten Teil des Romans zu vermissen: Die unvergleichliche Dynamik zwischen dem Ermittlerduo Werner & Kørner, von der die komplette Kopenhagen-Reihe meiner Meinung nach im Wesentlichen lebt. Da sich beide zunächst an unterschiedlichen Orten befinden und erst später auf Bornholm aufeinander treffen, müssen die Leser:innen hier leider lange auf das so einmalige wie unterhaltsame Gekabbel zwischen den beiden warten. Auch wenn Engberg in Wintersonne zu zeigen versucht, dass Anette und Jeppe auch isoliert voneinander (übrigens nur einer der vielen Aspekte des vieldeutigen und so passenden Originaltitels Isola, für dessen deutsche Übersetzung sich wohl leider kein Äquivalent gefunden hat) ganz eigenständige Personen sind, doch scheint das Ende des Romans aufs Neue zu beweisen, dass die beiden vor allem als Team funktionieren.

So setzt Katrine Engberg mit Wintersonne einen eher gedämpften Schlussakkord im Rahmen ihrer Kopenhagen-Reihe, die mit einem echten Paukenschlag begonnen hat. Wie alle Teile der Reihe punktet auch der finale Band mit einer gelungenen Figurenzeichnung und viel Atmosphäre, eine Spannungskurve baut sich allerdings nur langsam auf. Liebhaber:innen von echtem Nervenkitzel und packender Ermittlungsarbeit seien daher eher die drei ersten Bände der Reihe ans Herz gelegt, echte Fans werden aber auch Vieles an Wintersonne schätzen. Und wer weiß, vielleicht ist ein Wiedersehen mit Anette, Jeppe und Esther auch nicht ganz ausgeschlossen? Und sei es in einer Film- oder Serienadaption, die Katrine Engberg und ihren unvergesslichen Figuren auf jeden Fall zu wünschen wäre. Ich bleibe jedenfalls weiter gespannt.

Werbung – Vielen Dank an dieser Stelle an den Diogenes Verlag für das Leseexemplar und die Möglichkeit, dieses Buch besprechen zu dürfen.

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