Bericht: Lesung von Benedict Wells am 15. November 2021 in Zürich
Die gewonnene Wette auf die Zukunft
Seit Benedict Wells vor fast genau einem Jahr eine Clubtour zu Hard Land zusammen mit dem Musiker Jacob Brass für diesen Herbst angekündigt und ich mir dafür natürlich umgehend Tickets gesichert hatte, waren diese „Konzertlesungen“ für mich ein großer Lichtblick in diesen kräftezehrenden, weitgehend kulturlosen Zeiten im Zeichen der Pandemie gewesen. In der Zwischenzeit konnten dann – wenn auch vom Frühjahr in den Herbst verschoben – zwar sogar noch einige klassische Lesungen von Wells stattfinden, in deren Rahmen ich auch das große Glück hatte, bei der allerersten kurzfristig die Moderation übernehmen zu dürfen und über die daran anschließende Lesung berichten zu können, doch im Grunde war mindestens seit meiner ersten Konzertlesung von Benedict Wells und Jacob Brass 2016 und zweifellos seit ihrem gemeinsamen Auftritt in Zürich 2018 für mich klar, dass diese geplante Clubtour zu Hard Land etwas ganz Besonderes sein würde. Dennoch hatte ich aufgrund meines ausführlichen Berichts über die Ravensburger Lesung ursprünglich nicht geplant, darüber zu schreiben. Da ihr diese Zeilen aber gerade lest, habe ich mich nun offensichtlich doch noch umentschieden, und zwar aus mehreren Gründen: Zum einen ist – zumindest dem Ergebnis einer Instagramumfrage nach zu urteilen – euer Interesse an einem neuen Bericht doch größer als von mir erwartet (danke dafür!), zum anderen hatte ich auch das Gefühl, es der Tradition hier auf dem Blog zu schulden. Zudem wäre es – und das ist vermutlich der ausschlaggebende Grund – auch unheimlich schade gewesen, den wirklich in jeglicher Hinsicht besonderen, tiefgehenden und emotionalen Abend nicht festzuhalten, den ich am 15. November im Zürcher Kaufleuten erleben durfte: Ein erinnerungswürdiger Abschluss einer erfolgreichen Lesetour, die alle Beteiligten wohl fast nicht zu träumen gewagt hatten, die letztendlich jedoch trotz oder vermutlich sogar eher wegen der bis zuletzt teils verschwindend geringen Chancen ihrer Realisierbarkeit kaum wundervoller hätte sein können.
Bei der Tourankündigung im Dezember 2020 hatte Benedict Wells dieses, in Anbetracht der damaligen Umstände ziemlich optimistische, wenn nicht gar etwas verrückte Vorhaben treffenderweise als eine „Wette auf die Zukunft“ bezeichnet. Nun, fast ein Jahr später, ist diese hoffnungsvolle Wette, die sich auf insgesamt neun Veranstaltungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz bezog, tatsächlich aufgegangen – allerdings nur ganz knapp und mit wirklich sehr viel Glück. Denn hätte die ganze Tour in dieser Reihenfolge nur zwei Wochen später begonnen, wäre beispielsweise die Lesung in Wien aufgrund der aktuellen Entwicklungen schon wieder Geschichte gewesen. Diese Art „Torschlussstimmung“ war auch noch beim letzten Termin der Lesetour, der Lesung in Zürich, deutlich zu spüren und gleichzeitig war jedem und jeder der Anwesenden, insbesondere aber natürlich den Protagonisten des Abends, auch die Erleichterung darüber anzumerken, dass es doch noch geklappt hatte. Benedict Wells selbst fasste diese Stimmungslage zu Beginn des Abends mit folgendem Vergleich sehr treffend zusammen: „Das Ganze kommt fast einem Stunt von Indiana Jones gleich: Als die (Corona-)Tür zugeht, schafft es Indiana Jones gerade noch so, durch einen Spalt hindurchzuschlüpfen – und zieht dann auch noch mit einem letzten tollkühnen Griff seinen Hut mit.“ Und dieser Hut habe für ihn und seinen Bühnenpartner Jacob Brass während der Tour stets die Lesung in Zürich symbolisiert, erklärte Wells. Zweifellos muss jeder einzelne Termin der Lesetour unter diesem Damoklesschwert der Pandemie ein wahres Fest des Hier und Jetzt gewesen sein (davon hatte ich mich immerhin auch knapp eine Woche zuvor kurzfristig auch noch in Stuttgart überzeugt), doch in Zürich schwang den ganzen Abend über noch eine andere Form der Einmaligkeit und Unmittelbarkeit mit, die ich bei Veranstaltungen dieser Art (auch nicht auf Konzerten) so tatsächlich noch nie erlebt hatte.
Bereits mit seiner gefühlvoll dargebotenen Coverversion des Bruce Springsteen-Hits „I’m On Fire“, dem er wie auch den anderen Liedern, die nicht aus seiner Feder stammten, seine ganz eigene Note verlieh, stimmte Jacob Brass perfekt auf den Abend ein und unterstrich damit schon die Tatsache, dass sowohl er als auch sein Bühnenkollege im wahrsten Sinne des Wortes für das brennen, was sie tun – und das würden beide im Laufe des Abends noch einige Male unter Beweis stellen. Zu dem Zeitpunkt noch allein auf der Bühne, war Brass, wie er später erzählte, zu „Showbeginn“ offenbar noch so aufgeregt gewesen, dass er prompt die Wortreihenfolge der Schweizer Begrüßung „Schön, seid ihr hier!“ durcheinanderwürfelte, was ihm bei dem sichtlich wohlwollenden Publikum jedoch direkt ein paar Sympathiepunkte einbrachte. Zugegeben, schwer hatten es die beiden wohl tatsächlich nicht, einen Saal voller Literaturliebhaber*innen und Fans – darunter, wie Benedict Wells später erklärte, auch viele Verwandte, Freund*innen, Wegbegleiter*innen und -bereiter*innen wie zum Beispiel Diogenes-Verleger Philipp Keel –, für sich zu gewinnen, doch mit Sicherheit gelänge es den beiden Ausnahmekünstlern mit ihrer sympathischen, herzlichen Art auch mühelos, eine ganze Fabrikhalle voll mit Kulturbanausen für sich und ihre Kunst zu begeistern.
Überhaupt hatte man an dem Abend das angenehme Gefühl, unter Freunden zu sein. Dazu trug sicherlich auch die Bühnengestaltung sowie Beleuchtung bei, die dem Kaufleutener Clubsaal eine überaus einladende, heimelige Atmosphäre verlieh: Passend zum Buch war die Bühne im Retrostil mit dem ein oder anderen typischen Kinoaccessoire dekoriert, Filmrollen, Popcornmaschine, Vintage-Lampen und -Teppich sowie „Back to the Future“-Kinoplakate inklusive – samt passenden, Marty McFlys Originalen ähnelnden Nike-Schuhen an den Füßen des Autors, die er, wie er berichtete, extra für die Lesetour für eine haarsträubende Summe auf Ebay ersteigert hatte und nun tapfer trug, auch wenn sie ihm eigentlich zu klein waren. Echtes Engagement eben. Und so plauderte Wells in diesem gemütlichen Wohnzimmer-Wohlfühl-Ambiente ausgelassen über seinen neuen Roman Hard Land, dessen Entstehungsgeschichte, sein eigenes Bild der USA, seinen persönlichen Bezug zu den 80ern und seine fast schon exzessiven Recherchen im Bereich „Coming of Age“, filmisch wie literarisch (Genaueres hierzu gibt es in meinem Bericht über die Lesung in Ravensburg nachzulesen). Zwischen diesen Ausführungen, die Benedict Wells zwar selbst als „Gelaber“ bzw. „Vortrag“ bezeichnete, vom Publikum aber sicherlich weder als das eine noch das andere, sondern als aufschlussreiche Hintergründe zum Roman empfunden wurden, folgten fast schon zu gut aufeinander abgestimmte Lese- und Songparts, sodass man kaum glauben mochte, dass Jacob Brass‘ Album „Circletown“ im Grunde unabhängig von Wells‘ neuem Roman entstanden sein soll. Selbst die Coverversionen einiger Songs von der Playlist zu Hard Land klangen, als gehörten sie auf eben jenes Album. So ließen Lieder wie „The Power of Love“ die magische Atmosphäre der Textstelle, die Wells davor vorgelesen hatte, noch nachklingen, während Brass‘ eigene Songs wie zum Beispiel „Run Away“, „American Dream“ oder „Circletown“ die Gefühlswelt von Sam, Wells‘ jugendlichem Protagonisten, sowie bestimmte Motive oder auch Botschaften des Romans musikalisch unterstrichen.
Eine bemerkenswerte Symbiose, die beizeiten so perfekt wirkte, dass offenbar schon so mancher den Eindruck hatte, das Duo sei wie eine Boyband gecastet worden. Tatsächlich kommt diese jedoch nicht von ungefähr: Benedict Wells und Jacob Brass kennen sich nämlich, wie Ersterer erzählte, bereits seit elf Jahren, ihren Ursprung nahm ihre Freundschaft in der gemeinsamen Teilnahme an der Veranstaltungsreihe „Feels Like Home“, bei der internationale und deutsche Musiker und Autoren zusammen auf Tour gingen – in einem wohl etwas ramponierten Tourbus, der keinen geringeren Namen trug als „Bruce“. Kann es denn da ein Zufall sein, dass ausgerechnet der Pick-up, in dem die vier Freunde aus Wells‘ neuem Roman immer (natürlich Bruce-Springsteen-hörend) unterwegs sind, „Bruce-Mobil“ heißt? Wohl kaum, so Wells: „Da scheinen die Leute in meinem Unterbewusstsein zusammengekommen zu sein und entschieden zu haben, das ‚Bruce-Mobil‘ hier mal einzubauen.“ So seien sie auch auf die Idee gekommen, Musik und Literatur auf Wells‘ Lesungen zusammenzubringen. Die Herausforderung habe jedoch zunächst darin gelegen, die Buchhandlungen von diesem Konzept zu überzeugen. „Das war gar nicht so leicht, weil viele dann meinten: ‘Ja, aber dann müssen wir den [Anm.: Jacob Brass] ja auch noch bezahlen.‘“, schilderte der Autor mit einem betont starken bayerischen Akzent – sehr zur Erheiterung seines Bühnenkollegen. Dieses Argument sei ihm damals natürlich nicht nur in Bayern entgegengebracht worden, aber da hätte es eben besonders gut hingepasst, erklärte Wells schmunzelnd. Zum Glück gelang es den beiden einstweilen dann doch noch, den oder die ein/e oder andere Buchhändler*in von ihrem genialen Konzept zu überzeugen und so zum Beispiel bei ihrem gemeinsamen Auftritt im Ravensburger Konzerthaus 2016 oder 2018 im Kaufleuten viele Menschen zu begeistern.
Noch viel mehr als damals hatte man auf dieser Lesetour auch den Eindruck, dass hier zwei Partner auf Augenhöhe zusammen auf der Bühne standen – nichts anderes suggerierte ja auch schon die Deko-Kino-Leuchtreklame mit den Namen beider Künstler und beider Werke. So griffen nicht nur die Songs und Leseparts nahtlos ineinander, auch die Dialoge wirkten wie echte Gespräche unter Freunden: Unverstellt, aus dem Bauch heraus, lebhaft, launig und vor allem wertschätzend dem anderen gegenüber. Groß war daher auch die Freude bei Benedict Wells, als im Rahmen der Fragerunde direkt zwei Fragen an seinen guten Freund gerichtet wurden, wobei sich hinter einer sogar ein besonderer Liedwunsch (der großartige Song „Norway“) verbarg, den Brass später tatsächlich noch außerplanmäßig spielen sollte. Zunächst wurden jedoch nochmals etwas ernstere Töne auf der Bühne angeschlagen, denn auch diesmal kam der Autor nicht um die Frage nach seinem nächsten Projekt bzw. seinen Zukunftsplänen herum. So ganz genau könne er das momentan noch nicht sagen, was er aber wisse sei, dass er keine Figur der Öffentlichkeit mehr sein wolle, erklärte Wells. Begegnungen, wie sie beispielsweise auf Lesungen stattfänden, seien ihm jedoch sehr wichtig, weshalb er diese gerne zu bewahren versuchen werde. Ob es noch einmal einen Roman gäbe, wisse er noch nicht, Kurzgeschichten würde er sich jedoch erlauben. Nichtsdestotrotz wolle er nach vielen Jahren, die er ausschließlich dem Schreiben – seinem eigenen „Weg in die Unabhängigkeit“, wie er es nannte – gewidmet hatte, nun erst einmal etwas anderes wie zum Beispiel ein Studium ausprobieren. „Ich werde das Schreiben aber immer lieben“, beteuerte der Autor und ließ keinen Zweifel daran, dass diese Aussage aus tiefstem Herzen kam.
Damit war auch der emotionale Höhepunkt eines, wie bereits beschrieben, ohnehin sehr tiefgehenden Lesungsabends erreicht: „An so einem Abend wie heute kann man das ja mal machen“, meinte Wells und richtete dann einige sehr persönliche Worte an eine Person im Publikum, wobei ihm deutlich anzumerken war, wie nah ihm das selbst ging. Ein zutiefst bewegender Moment, in dem vermutlich alle Anwesenden diesen Mann, der auf der Bühne soeben so völlig ungekünstelt sein Innerstes nach außen gekehrt hatte, am liebsten ganz fest in die Arme genommen hätten. Selten, vielleicht auch noch nie, durfte ich bisher so einen absolut puren Moment auf der Bühne erleben und ich ziehe meinen Hut wirklich doppelt und dreifach vor Benedict Wells für diese Verletzlichkeit, die doch einer unglaublichen Stärke gleichkommt. Dennoch tat es wohl allen sichtlich gut, während Jacob Brass‘ wunderschöner Coverversion des The Cars-Songs „Drive“ (mit „Kiss Me“-Zwischenklängen) kurz ein bisschen durchatmen zu können. Nachdem Wells im Anschluss jedoch die vorletzte Textstelle des Abends – eine ebenfalls recht bewegende Passage aus der zweiten Hälfte des Romans – vorgelesen hatte, schien sich auch Brass ein Herz gefasst und sich ein Beispiel an seinem Bühnenkollegen genommen zu haben: Er bedankte sich bei seinem Freund mit einer offenkundig völlig ungeplanten Darbietung des 80er-Hits „Bette Davis Eyes“ von Kim Carnes (einen kurzen Ausschnitt davon habe ich an meinen Instagram-Post zum Bericht angehängt). „Benedict hat sich den Song wirklich Abend für Abend gewünscht, aber er ist nicht einfach zu spielen und vor allem der Text ist sehr schwierig“, erklärte Brass, der daraufhin, scheinbar von der Euphorie (oder vielleicht auch Euphancholie?) des Abend angetrieben, über seinen Schatten sprang, eine absolut überzeugende Performance ablegte und dafür verdient einen Riesenapplaus – natürlich besonders von seinem guten Freund – erntete.
Ein letztes Mal nahm Benedict Wells seine Zuhörer*innen dann zusammen mit Sam und Kirstie mit in Gradys Mall, wo Sam die erste von drei ziemlich verrückten Geburtstagsmutproben bestehen muss. Dieses Kapitel ist definitiv eines meiner liebsten in Hard Land und es ist auch ein perfekt ausgesuchter Lesepart, auch die Lesung in Zürich hat diesen Eindruck für mich noch einmal bestätigt. Überhaupt war es vom ersten Termin der Lesereise in Konstanz bis zur letzten Lesung im Kaufleuten sehr schön sehen und auch miterleben zu können, was für eine Entwicklung der Autor über diesen relativ kurzen Zeitraum noch zum Beispiel in Sachen Bühnenpräsenz, aber vor allem auch beim Lesen hingelegt hatte: Es war Wells immer mehr anzumerken, was für einen Spaß er dabei zu haben schien, in andere Rollen zu schlüpfen, dafür ab und an unterschiedliche Stimmen zu imitieren und dabei auch sein eigenes Werk sowie dessen Figuren immer wieder zu reflektieren und so teilweise selbst noch einmal ganz anders bzw. neu kennenzulernen. Sehr inspirierend waren aber nicht nur diese Impulse, sondern auch schlicht der Umstand, dass hier zwei Freunde jedes Mal einfach nur eine echt gute Zeit zusammen zu haben und daher offensichtlich jede einzelne Sekunde davon zu genießen schienen.
Daher dürften besonders die Zeilen It’s something unpredictable / But in the end, it’s right / I hope you had the time of your life aus “Good Riddance (Time of Your Life)” von Green Day, die zunächst Jacob Brass und daraufhin überraschenderweise auch Benedict Wells selbst zum Abschluss eines rund zweieinhalbstündigen(!) Programms angestimmt hatten, jeder und jedem der Anwesenden absolut aus dem Herzen gesprochen haben. In meinem Fall trifft das eigentlich auf jede der erwähnten Lesungen zu, doch muss ich durchaus zugeben, dass auch hier – wohl ähnlich wie bei Konzerten – an der Theorie etwas dran sein könnte, dass der allererste sowie der -letzte Termin einer Tour jeweils ihren ganz besonderen, eigenen Charme haben, sowohl für diejenigen auf als auch für diejenigen vor der Bühne. Und so trifft der erwähnte Song auch (wieder einmal) perfekt diese Mischung aus Euphorie und Melancholie, eben diese Euphancholie, die man an jenem Abend im Zürcher Kaufleuten fast in der Luft hätte greifen können. Doch mich erfüllt beim Gedanken an die Lesereise mittlerweile weniger Euphancholie, sondern vielmehr tiefe Dankbarkeit: Dankbarkeit vor allem dafür, dass diese Lesungen in so herausfordernden Zeiten wie diesen stattfinden konnten, sie eben jene für ein paar beseelende Stunden vergessen machten und ich die ein oder andere davon gemeinsam mit einer Handvoll lieber Menschen erleben durfte, die mir sehr wichtig sind und die auch wissen, wie viel mir die Bücher von Benedict Wells bedeuten. Genau diese Emotionen und Erinnerungen werde ich nun mit und in mir mittragen – bis zur hoffentlich nächsten Lesetour von Benedict Wells und Jacob Brass, irgendwann. So long!
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