Rezension: “Olga” von Bernhard Schlink
Stille Wasser sind tief
Den Namen „Bernhard Schlink“ verbinde ich automatisch mit der Kennzeichnung „großes Schreibtalent“ – und das, obwohl ich bisher nur eines seiner Werke gelesen habe. Sein wohl bekanntester Der Vorleser (und auch die großartige Verfilmung!) haben mich jedoch vor etlichen Jahren so sehr beeindruckt, dass ich mit der Zeit eine große Bewunderung für den Autor entwickelt habe. Die Geschichte von Hanna und Michael ist schlichtweg unvergesslich und das liegt in meinen Augen vor allem auch an der besonderen Art, wie Schlink diese erzählt hat – sein Stil ist einzigartig und unnachahmlich. Dennoch habe ich aus unerfindlichen Gründen in all den Jahren kein weiteres seiner Bücher gelesen. Als ich jedoch das Verlagsprogramm fürs Frühjahr 2018 durchblätterte und mir die liebe Susanne von Diogenes obendrauf auf der letzten FBM von Olga vorschwärmte, war für mich klar: Das Buch muss ich unbedingt lesen!
Ich war mir von Anfang an sicher, dass mir der Roman gefallen und ich mich mit Olga gut verstehen würde. Daran bestand für mich auch kein Zweifel, obwohl der Klappentext suggerierte, dass eine Liebesgeschichte hier eine große Rolle spielen würde, und ich allzu viel Kitsch ja nur schwer aushalte. Doch ich wusste einfach, dass die ganze Liebesthematik hier in einem sehr erträglichen Rahmen stattfinden würde und außerdem war die Aussicht auf eine interessante Lebensgeschichte mit zeitgeschichtlichem Fokus (damit kann man mich ja generell immer locken) viel zu reizvoll, um meine Chance mit Olga nicht zu wagen. Am Ende sollte sich das gute Bauchgefühl auch bewahrheiten und sich die Wahl des Romans als erstes Buch im Jahr 2018 auch absolut auszahlen: Mit Olga bescherte mir Schlink mein erstes Lesehighlight in diesem Jahr.
Wie der Titel des Werks unschwer vermuten lässt, geht es in Schlinks neuestem Roman um eine Frau, die den Namen „Olga“ trägt. Ein schlichter Name, der nur aus vier Buchstaben besteht und zunächst nicht wirklich das Interesse weckt und auch nicht ansatzweise vermuten lässt, was hinter diesem Buchdeckel steckt. Und so unauffällig das Buch erst einmal daherkommt, so schlicht wirkt anfangs auch die Geschichte der titelgebenden Heldin: Das unscheinbare Mädchen Olga Rinke wächst in ärmlichen Verhältnissen in Breslau auf, die Eltern sterben früh, das Kind kommt daraufhin zur Großmutter aufs Land nach Pommern. Von ihr erfährt Olga jedoch keine Liebe, denn die alte Bäuerin hält nichts vom Bestreben ihrer Enkelin, einen höheren Bildungsweg einzuschlagen. Ein Lichtblick ist ihr allerdings die Freundschaft mit zwei Kindern aus der Nachbarschaft: Viktoria und Herbert, die Sprösslinge eines reichen Gutsbesitzers. Schließlich werden Olga und Herbert ein Paar, doch ihre Beziehung steht unter keinem guten Stern: Nicht nur wird sie im Dorf (und vor allem von Herberts Familie inklusive Viktoria) als nicht standesgemäß angesehen, sondern auch die unterschiedlichen Wesenszüge, Lebensvorstellungen und Weltansichten der beiden Partner stellen ihre Liebe immer wieder auf die Probe: Die bodenständige, kritisch-denkende und linksorientierte Olga strebt ein mehr oder minder beschauliches Leben als Lehrerin an, den träumerischen, idealistischen und stets rastlosen Herbert zieht es jedoch in die Ferne. Während sich die junge, zielstrebige Frau den Normen der Zeit widersetzt, sich ihre Ausbildung hart erkämpft und letztendlich komplett in ihrem Traumberuf aufgeht, reist Herbert mit der preußischen Armee nach Deutsch-Südwestafrika und später nach Südamerika, um die großdeutschen Kolonial-Ideen voranzubringen. Immer wieder kehrt er nach seinen größenwahnsinnigen Abenteuern für kurze Zeit zu Olga zurück, bis er schließlich bei einer Nordpol-Expedition im ewigen Eis verschüttgeht. Ihr Leben lang wird ihm Olga, der noch einige Schicksalsschläge widerfahren werden, dennoch ihre Treue halten, dabei jedoch auch den Lauf der Dinge, den Geist der Zeit(en) und das Leben an sich hinterfragen sowie ihre ganz eigenen Schlüsse daraus ziehen.
Wie bereits erwähnt, mutet die Geschichte anfangs recht schlicht an. Doch steckt, wie dieser kurze Abriss des Inhalts zeigen soll, deutlich mehr dahinter, als es zunächst den Anschein macht. Deswegen trägt diese Rezension auch den Titel „Stille Wasser sind tief“, den ich trotz seiner generellen Abgedroschenheit gewählt habe, weil er auf vielfache Weise auf den Roman zutrifft: Zum einen, weil er, wie eben angedeutet, trotz des recht beschaulichen, langsamen Anfangs sehr schnell einen gewaltigen Sog entwickelt, dem man sich als Leser nur schwer entziehen kann. Zum anderen, weil die Geschichte in Stil und Aufmachung insgesamt auch ganz generell ziemlich verhalten, beherrscht und leise daherkommt, aber trotzdem den nötigen Biss besitzt und auch mit dem ein oder anderen Knalleffekt (und das sogar teils sprichwörtlich!) überrascht. Nicht zuletzt offenbart sich auch die Titelheldin allmählich als deutlich vielschichtiger und gewissermaßen auch abgründiger, als man vermuten würde: Aus dem stillen, unscheinbaren und beobachtenden Mädchen wird eine selbstbewusste, gebildete, emanzipierte und rundum unabhängige Frau mit starker Persönlichkeit, die ihren eigenen Weg geht, ihre eigenen Entscheidungen trifft und auch, ohne jemals zu klagen, mit den Konsequenzen lebt und damit tief beeindruckt.
Beeindruckt hat mich auch der Aufbau des Romans bzw. Bernhard Schlinks kreative Herangehensweise an die Geschichte und deren Protagonistin. Das Buch umfasst drei Teile, die jeweils aus unterschiedlichen Perspektiven geschrieben sind: Im ersten Teil wird etwa die erste Hälfte von Olgas Leben bis kurz nach dem Zweiten Weltkrieg von einem auktorialen Erzähler beschrieben, danach wird im Mittelteil Olgas Geschichte aus der Sicht eines Ich-Erzählers namens Ferdinand, einem späteren Weggefährten Olgas, weitererzählt. Dieser Ferdinand ist es wiederum auch, der die Briefe beschaffte, aus denen der dritte Abschnitt des Romans besteht: Die Titelheldin hatte diese ihrem Geliebten Herbert jahrelang postlagernd zugeschickt, nachdem dieser auf jene verhängnisvolle Mission in die Arktis aufgebrochen war, von der er nie zurückkehrte. Damit nähert sich der Leser über die etwa 300 Seiten Olga immer mehr an, zunächst als Beobachter, dann direkt an ihrer Seite und letztendlich mit Zugang zu ihrem Innersten und ihren persönlichsten Gedanken. Dieser Ansatz hat mir prinzipiell gut gefallen und er ist definitiv Beweis für Schlinks Schreibtalent, doch muss ich zugeben, dass der Mittelteil auf mich leicht deplatziert wirkte und der Geschichte minimal etwas von ihrer Geschmeidigkeit nahm: Ich empfand Ferdinand auf eine gewisse Art und Weise schlichtweg als Störfaktor, denn mich interessierten seine Gedanken und Gefühle bzw. seine eigene Geschichte nur wenig, da ich nur die Protagonistin im Auge hatte und wissen wollte, wie es mit ihr weitergeht, statt Ferdinands teils recht langen und ausschweifenden Ausführungen folgen zu müssen. Diese leichten Schwächen des Mittelteils machte der überaus gelungene dritte Abschnitt des Romans wieder wett: Olgas emotionale Briefe an Herbert haben mir sowohl sprachlich als auch inhaltlich wirklich ausgesprochen gut gefallen und ich habe mich oft dabei ertappt, mich beim Lesen etwas zu zügeln und die Briefe nur häppchenweise zu lesen, um länger etwas davon zu haben. Um ehrlich zu sein, hätte der Roman, wenn es nach mir gegangen wäre, auch komplett aus Briefen bestehen können, aber ich muss auch zugeben, dass ich seit meiner Begegnung mit Goethes Werther in jungen Jahren ohnehin ein großer Fan von Briefromanen bin.
Vor allem in den Briefen wird die Emotionalität des Romans sehr deutlich, aber auch sonst klingt diese immer wieder zwischen den Zeilen hindurch, auch wenn (oder vielleicht gerade weil) Schlink sich hier wieder seiner typischen nüchternen, völlig unaufgeregten, schnörkellosen und teils auffällig kurzatmigen Sprache bedient. Diese Prägnanz lenkt den Fokus schließlich aufs Wesentliche, ohne an Tiefgang einzubüßen: Zwar wird die Geschichte auch mittels der kurzatmigen Sätze vor allem im ersten Teil des Romans in einem erstaunlichen Tempo erzählt, wodurch (gefühlt) ganze Jahrzehnte und Ereignisse wie die beiden Weltkriege auf nur wenigen Seiten förmlich an einem vorbeirauschen, doch tut dies weder der Spannung einen Abbruch (im Gegenteil!) noch fehlt es an Momenten, die den Leser innehalten lassen und zum Nachdenken anregen. Diese Szenen stehen oft in engem Zusammenhang mit dem zeitgeschichtlichen Geschehen und den Konventionen der Zeit, auch wenn die Geschichte hier zweifellos im Hintergrund steht und der Fokus des Romans ganz klar auf der (Lebens-)Geschichte Olgas liegt. Doch genau das macht den Roman zu etwas ganz Besonderem: Bernhard Schlink erzählt in Olga Geschichte am Beispiel eines in vielerlei Hinsicht außergewöhnlichen Einzelschicksals, das tief bewegt und damit unvergesslich ist.
Für die Ewigkeit ist vor allem auch die Titelheldin dieses wunderbaren Romans: Sie erfüllt das gesamte Werk mit einer so unglaublichen Präsenz, dass ein anderer Titel als ihr Name für den Roman auch keinen Sinn gemacht hätte und dieser auf so vielen Ebenen bemerkenswerten Figur ansonsten schlichtweg nicht gerecht geworden wäre. Ich bin dankbar, dass ich eine so beeindruckende Persönlichkeit wie Olga kennenlernen durfte, und verneige mich vor Schlink, seinem Werk und einer der nun ganz großen Frauenfiguren der Weltliteratur.
Werbung – Vielen Dank an dieser Stelle an den Diogenes-Verlag für das Leseexemplar und die Möglichkeit, diesen Roman lesen zu dürfen.
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