Rezension: “Ein ganzes Leben” von Robert Seethaler

Understatement durch und durch

Wenn einer meiner Lieblingsautoren* ein Buch empfiehlt, dann muss ich das lesen. Aus Erfahrung weiß ich bereits, dass ich mich auf diese Empfehlung hundertprozentig verlassen kann und es sich um ein lesenswertes Buch handeln muss. Kaum hatte ich jene Rezension zu Ein ganzes Leben also gelesen, habe ich mir Robert Seethalers Roman umgehend beim Buchladen meines Vertrauens sichergestellt.

Um ganz ehrlich zu sein, bin ich mir ziemlich sicher, dass ich andernfalls wahrscheinlich nie auch nur auf die Idee gekommen wäre, dass dieses Buch etwas für mich sein könnte – beziehungsweise wäre es mir im Buchladen oder sonst wo mit Sicherheit nicht einmal ins Auge gestochen. Und das wäre, nun im Nachhinein betrachtet, unglaublich schade, ja fast ein großer Verlust gewesen.

Ein ganzes Leben_01

Seethalers Werk beinhaltet ganz genau das, was im Titel steht: Die Geschichte umfasst die knapp acht Jahrzehnte des Lebens von Andreas Egger, einem simplen Zeitgenossen, der ein bescheidenes Eigenbrötlerdasein inmitten der Berge fristet. Dieses Leben ist geprägt von Härte, Entbehrung, Verzicht, Einsamkeit und vor allem bitteren Schicksalsschlägen. Als kleiner Junge kommt Andreas Egger nach dem Tod seiner Mutter an den Hof eines Verwandten, dem hartherzigen Bauern Kranzstocker. Egger wächst dort zum Hilfsknecht heran und muss erst jahrelang Misshandlungen über sich ergehen lassen, bis er schließlich den Mut ergreift, um von diesem Ort wegzukommen – mit einer körperlichen Entstellung, die ihn sein Leben lang begleiten wird. Dennoch findet der hinkende Mann Arbeit bei einem Unternehmen, das einen umfassenden Bergbahnbau plant und mit dem auch der technische Fortschritt allmählich Einzug in der Gegend hält. Bald darauf lernt Egger auch Marie kennen und lieben, doch das junge Glück soll nur von kurzer Dauer sein. Die eine Prüfung folgt der nächsten, beispielsweise in Form von Naturgewalten oder dem Krieg, und ehe er sich versieht, blickt der alte Andreas Egger auf sein Leben und die doch so schnell verflossene Zeit zurück.

Tatsächlich klingt das Ganze recht unspektakulär, weswegen ich, wie gesagt, stark davon ausgehe, dass ich das Buch, wenn ich es denn überhaupt eines Blickes gewürdigt hätte, spätestens nach dem Lesen des Klappentexts linksliegen gelassen hätte. Ein großer Fehler, da dieser Roman mit ganz anderen Qualitäten trumpft, als das Interesse des Lesers etwa mit einer abenteuerlichen Geschichte, einer kunterbunten, auffälligen Covergestaltung oder einem geheimnisvollen Titel zu wecken. Denn so schlicht wie die Erzählung und der Schreibstil sind eben auch der Titel und die Buchgestaltung an sich. Folglich schreit Seethalers Roman – auf jeglicher Ebene – nicht nach Aufmerksamkeit, er macht keinen Lärm um sich, er ist nicht laut.

Da dem Roman Sensationshascherei und Spektakel so fern sind, ist das Buch auch nicht für Personen geeignet, die nach einem Pageturner suchen und möglichst viel Action erwarten. Zwar umfasst das Buch ja titelgemäß ein ganzes Leben, weswegen man davon ausgehen kann, dass immerhin ein bisschen etwas passieren sollte – und Egger widerfährt im Laufe der Geschichte ja doch so einiges –, allerdings werden selbst so einschneidende Erlebnisse wie ein Lawinenabgang oder Kriegserfahrungen derart unaufgeregt be-, man möchte fast sagen „abgehandelt“, sodass sich diese beinahe so diskret in die Geschichte einbinden wie andere, im Vergleich dazu völlig lapidare Ereignisse. In Wirklichkeit sind es dann aber oft genau diese scheinbar belanglosen Begebenheiten, die letztendlich am intensivsten nachhallen. Das ist eine der Stärken dieses Romans: Aufzuzeigen, dass die kleinsten Dinge häufig die größte Bedeutung haben – fast so, wie dieses kleine, große Buch selbst.

Eigentlich sind die großen Themen des Buches (beispielsweise Entsagung, Krankheit, Unglück, Tod) und ziemlich alles, was dem Protagonisten zustößt, nicht gerade die leichteste Kost, und doch kommt die Geschichte überhaupt nicht schwermütig oder bedrückend, sondern stattdessen überraschend mühelos und locker daher. Robert Seethalers Sprache und Stil sind leichtfüßig, zwanglos und geschliffen, jedoch gleichzeitig unglaublich atmosphärisch. Nicht selten wird die Ausdrucksweise ausgesprochen rustikal, geradezu grob, wenn auf unverblümte, regelrecht abgeklärte Weise von der ungeschönten Wahrheit (man denke hier an Verletzungen, Krankheit und das Sterben) berichtet wird. Gerade an solchen Stellen kommt es dann auch gelegentlich vor, dass die Erzählung hin und wieder auch mal ins Skurrile abrutscht. Derartige Szenen werden jedoch wiederum häufig von einzelnen Sätzen oder Passagen abgelöst, die so unfassbar fein und empfindsam sind, sodass der Leser ganz sachte berührt wird. All diese Eigenschaften der Sprache und des Stils, die Evokationskraft, die Ehrlichkeit, die Zwanglosigkeit und auch die Feinheit sorgen in Kombination dafür, dass der Roman eine unbeschreibliche Lebensweisheit und Ruhe ausstrahlt, die ich bis jetzt noch nicht auf diese Art erlebt habe.

Diese Ruhe spiegelt auch den Charakterzug wider, der den Protagonisten Andreas Egger auch maßgeblich ausmacht: Mit einem bewundernswerten Gleichmut nimmt dieser Mann ohne Murren alles hin, was ihm das Schicksal in den Weg wirft. Er hinterfragt nichts und klagt nicht. Egger lässt sich nicht beirren, geht stets geradeaus und lebt im Hier und Jetzt. Menschen – und hier eben auch die Romanfiguren – kommen und gehen, die Zeiten verändern sich, Glück und Unglück wechseln sich ab: Das ist der Lauf des Lebens und doch sollte man wie Egger die wahren, wenn oft auch kleinen Freuden nicht missachten. Diese Lehre führt Seethaler dem Leser mit diesem Roman sehr bewusst vor Augen.

 

Trotz kleinerer Abstriche in Form eines in meinen Augen etwas wirren Einstiegs in die Geschichte und diverser Sprünge zwischen den Abschnitten, die für mein Empfinden zeitlich etwas zu groß geraten sind, hat mir Ein ganzes Leben – wohlgemerkt ja wider Erwarten – unheimlich gut gefallen. Mit seinen knapp über 180 Seiten, seiner großen Schrift und der einfachen Sprache war der Roman sehr kurzweilig und schnell zu lesen. Die Geschichte über Andreas Eggers Leben kommt völlig ohne jegliches Tamtam aus und beeindruckt trotzdem oder eben gerade deswegen zutiefst, nicht umsonst wurde es also für den Man Booker Award nominiert: Dieses schmale, unscheinbare Büchlein ist ein leises Werk, das gerade wegen seiner Schlichtheit glänzt und es vermag, ganz behutsam tiefe Spuren zu hinterlassen.

* Hier handelt es sich um keinen Geringeren als den von mir sehr geschätzten Benedict Wells.

Welches Buch hat euch in letzter Zeit völlig überrascht und/oder unerwartet bewegt? Verratet es mir gerne in den Kommentaren!

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