Rezension: “The Orchard of Lost Souls” von Nadifa Mohamed

Konflikt und Überleben: Somalia am Vorabend des Bürgerkriegs

The Orchard of Lost Souls, der zweite Roman von Nadifa Mohamed, einer jungen britischen Autorin mit somalischen Wurzeln, klang von Anfang an sehr vielversprechend für mich. Im Rahmen meines Studiums beschäftige ich mich nämlich seit ein paar Jahren mit dem Konflikt in Somalia. Mit den Werken eines der berühmtesten Söhne dieses Landes, dem Schriftsteller Nuruddin Farah, bin ich mittlerweile bestens vertraut und obwohl dieser dem Schicksal somalischer Frauen bereits außergewöhnlich viel Bedeutung beimisst, schlägt Mohamed mit ihrer Romanidee einen völlig anderen Weg ein: Anhand des Schicksals dreier Frauen unterschiedlicher Generationen schildert sie Somalias tragischen Niedergang in die zivilen Unruhen, die seither anhalten.

Nordsomalia, genauer gesagt Hargeisa, Ende der 80er. Seit der Unabhängigkeit von den Kolonialmächten und einem Militärputsch 1969 regiert Diktator Siad Barre das Land am Horn von Afrika mit eiserner Faust. Die Menschen werden von den Anhängern des sozialistischen Kommunismus in ihre Schranken verwiesen, mit bekennenden Gegnern, aber auch mit den noch so leisen, manchmal gar unabsichtlichen Kritikern des Regimes macht man kurzen Prozess. Doch die Stimmen werden allmählich lauter, es bahnt sich eine Revolution an. Mittendrin im brodelnden Kessel befinden sich Kawsar, Deqo und Filsan, deren Leben sich in der Zeit vor dem Umsturz auf schicksalhafte Weise miteinander verflechten werden.

Im ersten Teil des Romans trifft der Leser in wechselnden Abschnitten erstmals auf die einzelnen Charaktere, bevor die drei im Rahmen von Feierlichkeiten zu Ehren Barres nacheinander durch Zufälle aufeinandertreffen. Die fast sechzigjährige Kawsar wohnt dem festlichen Akt zusammen mit ihren beiden Freundinnen Maryam und Dahabo gezwungenermaßen bei, auch wenn es ihr innerlich widerstrebt, dort zu sein. Ebenfalls im Stadion ist Deqo, ein neunjähriges Waisenmädchen aus einem Flüchtlingslager – dazu angewiesen, mit einer Gruppe anderer Flüchtlingskinder einen einstudierten Tanz vorzuführen. Die Mittzwanzigerin Filsan wiederum soll als Mitglied des Militärs vor Ort für Sicherheit sorgen und zu erwartende Unruhen gezielt unterdrücken. Mit einem Patzer Deqos während der Tanzdarbietung und einer anschließenden gewalttätigen Zurechtweisung des Mädchens, welche Kawsar beobachtet, kommt das Rad schließlich ins Rollen: Kawsar möchte Deqo retten und greift beherzt ein, beißt bei den Anhängern des Regimes jedoch auf Granit. Dem Mädchen gelingt daraufhin die Flucht, Kawsar wird kurzerhand ins örtliche Gefängnis gesteckt, wo es letztlich zu einer folgenschweren Konfrontation zwischen ihr und Filsan kommt, die einen großen Schatten auf die weitere Handlung vorauswerfen wird.

Der zweite Part, welcher den Hauptteil des Buches bildet, beleuchtet dann jeweils in einem längeren Kapitel, wie es mit den drei Frauen in den Wirren am Vorabend der Revolution weitergeht. Nach ihrer Flucht endet die neunjährige Deqo in den Straßen Hargeisas und ist von nun an auf sich allein gestellt. Während sich das Mädchen durch die Armenviertel der Stadt schlägt, in die Fänge einer Zuhälterbande gerät und an ihren Erfahrungen wächst, bekommt der Leser einen eindringlichen Einblick in das Leben der Ärmsten der Armen Hargeisas. Eine vollkommen andere Perspektive bietet wiederum Filsans Geschichte, welche die Beweggründe für das Handeln und Denken der jungen Frau aufzeigt und besonders den Alltag als Frau im Militär eindrücklich illustriert. Den zentralen Dreh- und Angelpunkt der Geschichte bietet letztendlich Kawsars Haus und ihr besonderer Garten inmitten der Stadt: Nachdem Kawsar ihr Zuhause zum Gefängnis wurde, bleibt ihr nicht mehr viel übrig, als ihren Gedanken nachzuhängen und auf ihr Ende zu warten. Sie ist zwar gut situiert, musste aber, wie der Leser nach und nach erfährt, in ihrem Leben bereits einige schwere Schicksalsschläge erleiden. Nun kämpft sie mit den Geistern ihrer Vergangenheit und nur durch ihr Fenster und Besuch von auswärts bekommt sie mit, wie die Stadt und die Bevölkerung mehr und mehr im Chaos des drohenden Bürgerkriegs versinken. Schließlich führt der Roman die drei Erzählstränge nochmals zusammen.

Mit viel Feingefühl, aber auch mit großer Eindringlichkeit schildert Nadifa Mohamed die aufkochende Stimmung in dem Land und die erschütternden Folgen der Diktatur und des anschließenden Tumults auf die Stadt und besonders die Menschen. Dennoch wohnt ihrer Sprache etwas unglaublich Zartes, Schönes inne, was besonders in ihren detaillierten Skizzen der Landschaft und vor allem auch der Gefühlswelt der einzelnen Figuren anschaulich und bildgewaltig zum Tragen kommt. Wirklich spannend ist auch ihre Grundidee beziehungsweise ihre Versuchsanordnung, wenn man es so nennen mag: Das Aufeinanderprallen dreier grundverschiedener außergewöhnlicher Persönlichkeiten aus völlig unterschiedlichen Milieus, bei dem sich die Frage stellt, wie diese drei Leben zu vereinen sind. Doch durch die groben Umstände haben alle Drei (zusammen mit dem Rest der Bevölkerung) doch die ein oder andere Sache gemeinsam, denn jede von ihnen blickt in den Abgrund, eine jede muss sich ihrem Schicksal stellen und am Ende des Tages haben sie doch dasselbe Ziel: Überleben.

Auch wenn Mohameds Roman mit dieser unvergesslichen, bemerkenswerten und bewegenden Geschichte über Liebe, Verrat, Verzweiflung und Hoffnung aufwartet, konnte er mich letzten Endes dennoch nicht vollkommen überzeugen. Zunächst weist die Geschichte leider einige ziemlich langatmige Stellen auf, die mir ab und an die Freude am Lesen nahmen. Auch war mir – tragische Schicksale hin oder her – keine der drei Protagonistinnen wirklich sympathisch: Kawsars endloses Genörgel und vor allem ihr grober Umgang mit ihren Mitmenschen verärgerte mich nicht nur einmal, Deqo erschien mir trotz ihres jungen Alters teilweise etwas zu naiv und mit Filsan hat man es, auch wenn man durchaus versteht, warum sie so ist, wie sie ist, ohnehin sehr schwer. Was mich aber besonders störte war die Tatsache, dass die Geschichte oft wirklich sehr konstruiert wirkte. Vor allem fehlte mir aber eine genaue(re) historische und politische Kontextualisierung: Zwar erhebt dieser Roman sicherlich nicht den Anspruch, einen umfassenden geschichtlichen Umriss der Situation in Somalia geben zu wollen, aber für meinen Geschmack wurde doch zu viel an Wissen vorausgesetzt und viel zu wenig erklärt. Zumindest habe ich mir beim Lesen wirklich gedacht, dass ich ziemlich orientierungslos und voller Fragen gewesen wäre (und es teilweise trotzdem noch bin!), hätte ich mich nicht schon vorab ausgiebig mit dem Thema Somalia beschäftigt. Vielleicht stecke ich ja auch schon zu tief in der Materie, aber ich kann mir trotzdem gut vorstellen, dass die Lektüre für Leser, die mit dem Land vielleicht lediglich Piraterie, „Black Hawk Down“ und Clanfehden verbinden, wahrscheinlich doch etwas schwer(er) und mühselig(er) werden könnte.

Aus diesem Grund würde ich Interessierten für den Anfang eher zu den Büchern Nuruddin Farahs (und hier besonders zu seiner aktuellsten Trilogie „Past Imperfect“) raten, welche die Geschichte Somalias und des Bürgerkriegs – neben und auch anhand von eindringlicher Storylines – ausführlich und verständlich illustrieren. Allerdings arbeitet Farah doch mit einer etwas drastischeren Sprache und seine Geschichten sind etwas düsterer und teilweise auch schwermütiger und actiongeladener. Wer es also lieber empfindsamer und gemächlicher mag und sich ja vielleicht auch nicht so arg daran stört, dass viele Hintergrundinformationen selbst recherchiert werden müssen, der wird an The Orchard of Lost Souls sicherlich seine Freude haben. Nicht zuletzt ist Mohameds Roman aber so oder so für sämtliche Leser keine schlechte Wahl, da er einen wichtigen und großen Beitrag dazu leistet, dem Schicksal von Frauen allgemein und im Besonderen dem von Frauen in Krisengebieten wie Somalia mehr Bedeutung beizumessen sowie weiter nachdrücklich auf das traurige Schicksal dieses Landes aufmerksam zu machen.

Habt ihr bereits Bücher über Somalia gelesen? Oder kennt ihr Romane mit ähnlich starken weiblichen Charakteren?

Kommentare

  1. Julia | Literameer

    Hallo 🙂

    das Buch klingt sehr interessant. Den Titel werde ich mir auf jeden Fall mal merken. Wobei ich mir auch gut vorstellen kann, dass mich die von dir angesprochenen Kritikpunkte auch stören könnten. Aber das gilt es wohl herauszufinden.

    Die Bücher von Nuruddin Farah werde ich mir auch gleich mal anschauen. Ich fange gerade an mich für afrikanische Autoren zu interessieren und habe da noch viel zu entdecken. Deswegen hab ich deine Rezension gerade auch mit großem Interesse gelesen.

    Liebe Grüße,
    Julia

    1. Liebe Julia,

      erst einmal freut es mich sehr, dass du hier auf meinem Blog gelandet bist und ich dich für die Bücher begeistern konnte! 🙂

      Wenn du gerade erst dabei bist, afrikanische Literatur für dich zu entdecken, sind Nadifa Mohameds Bücher vielleicht gar kein schlechter Anfang – sie schreibt auf jeden Fall einfacher als Nuruddin Farah. Seine Bücher sind teilweise etwas komplex, weil sie sehr viele Informationen und auch Charaktere beinhalten. Wenn man aber, wie gesagt, mehr an der Geschichte Somalias interessiert ist, dann ist man bei Farah besser bedient. Du kannst ja auch mal schauen, welche Bücher dir vom Plot her mehr zusagen. Mir haben bei Farah “Links” und “Crossbones” (dazu kommt eventuell auch bald eine Rezension) sehr gut gefallen.

      Ich habe gesehen, dass du “We Should All Be Feminists” von Chimamanda Ngozi Adichie gelesen hast. Seit ich ihren TED Talk zum Thema “The Danger of a Single Story” gesehen habe, bin ich absolut begeistert von dieser Frau und freue mich schon sehr darauf, “Americanah” und “Half of a Yellow Sun” zu lesen. Apropos Nigeria: Da kann ich dir auch Chris Abanis “Song For Night” ans Herz legen – dazu habe ich im Dezember auch eine Rezension geschrieben, falls du da noch reinschauen magst. 🙂

      Ganz liebe Grüße,
      Elena

      1. Julia | Literameer

        Hallo Elena,

        vielen Dank für deine ausführliche Antwort samt Einschätzung der Autoren 🙂

        Mal zu schauen, welche mir vom Plot her besser gefallen, werde ich auf jeden Fall machen. Denn im Mittelpunkt steht ja doch immer noch die Geschichte. “Jenes andere Leben” von Nuruddin Farah steht schon auf meiner Merkliste, “Links” und “Crossbones” schaue ich mir gleich auch mal genauer an und bin gespannt auf deine Rezensionen.

        Adichies TED Talk habe ich mir noch nicht angeschaut, habe es aber auch noch vor. “Americanah” habe ich schon gelesen und fand das Buch sehr gut. Es hat mich beeindruckt aber auch sehr nachdenklich gemacht. Und deine Rezension zu “Song for Night” schaue ich mir gleich gerne an.

        LIebe Grüße,
        Julia

        1. Liebe Julia,

          sehr gerne, ich freue mich immer über einen Austausch! 🙂

          “Jenes andere Leben” (Engl.: Hiding in Plain Sight) habe ich mir auch schon besorgt und möchte es bald lesen. Leider hat es aber wohl nicht allzu gute Kritiken bekommen… Na ja, ich denke, ich werde mir bald selbst ein Bild davon machen und ich hoffe, dass dir dein erstes Buch von Farah – für welches du dich auch immer entscheiden wirst, gefallen wird!

          Noch jemand, dem “Americanah” sehr gut gefallen hat. 🙂 Das bestärkt mich nur noch mehr, es bald zu lesen, da ich bis jetzt ausschließlich Gutes darüber (und über Adichie allgemein) gehört habe.

          Viele Grüße,
          Elena

          1. Julia | Literameer

            Liebe Elena,

            sich selbst ein Bild davon zu machen ist immer die beste Idee. Ich lasse mich zwar auch immer wieder mal von anderen Meinungen steuern, sei es durch Empfehlungen oder auch Kritiken. Aber letztenendes mache ich mir doch am liebsten ein eigenes Bild.

            Liebe Grüße
            Julia

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