Rezension: “Der Trafikant” von Robert Seethaler

Zeiten des Umbruchs

Nachdem mir Ein ganzes Leben vor zwei Monaten so unerwartet gut gefallen und mich vor allem Robert Seethalers absolut einmaliger Schreibstil restlos begeistern konnte, wollte ich nicht lange mit der Lektüre eines weiteren Werks des österreichischen Autors warten. Die Biene und der Kurt steht zwar bereits im Regal, aber Der Trafikant hat mich thematisch gerade ein bisschen mehr angelacht. Ich nahm das Buch auf eine Zugreise mit und habe währenddessen circa die Hälfte des Romans verschlungen. Blitzschnell vermochte es Seethaler, mich in den Bann zu ziehen.

Der Trafikant erzählt die Geschichte des jungen Franz Huchel, dessen Leben sich im zarten Alter von siebzehn Jahren vom einen Tag auf den anderen verändert. Hatte der Junge gerade noch die Seele am Ufer seines geliebten Attersees baumeln lassen können und sich dank glücklicher Umstände nie die Hände schmutzig machen müssen, schickt ihn die Mutter nach einem unverhofften Schicksalsschlag Knall auf Fall nach Wien zu einem ihrer ehemaligen Liebhaber, Otto Trsnjek, der dort eine Trafik unterhält. Da ihr Trsnjek noch einen Gefallen schuldet, soll Franz dort als Lehrling anfangen. Zum ersten Mal auf sich alleine gestellt und vom beschaulichen Örtchen Nußdorf in die österreichische Metropole verfrachtet, ist Franz zunächst vom geschäftigen Treiben der Stadt und seinen neuen Pflichten heillos überfordert. Er vermisst seine Mutter und hat Heimweh. Doch allmählich gewöhnt er sich an seine täglichen Aufgaben und beobachtet das Tagesgeschäft in der Wiener Währingerstraße voller Interesse. Ein bestimmter Stammkunde Trsnjeks weckt dabei besonders seine Neugier: Der betagte Professor Sigmund Freud. Wissbegierig verfolgt Franz den berühmten Psychoanalytiker, um herauszufinden, was es mit dem sogenannten „Deppendoktor“ auf sich hat, und nach und nach entwickelt sich eine Verbundenheit zwischen dem jungen Franz und dem alten Herrn. Bald macht Franz auch Bekanntschaft mit dem Wiener (Nacht-)Leben und verliebt sich Hals über Kopf in „das böhmische Mädchen“ Anezka. Allerdings muss er schnell einsehen, dass das mit der Liebe kein einfaches Spiel ist. Und es dauert auch nicht lange, bis der junge Mann erkennen und am eigenen Leib erfahren muss, dass die Zeiten bei Weitem nicht mehr so idyllisch und unbeschwert sind wie einst am Ufer des Attersees, denn die Lage spitzt sich allmählich zu…

Robert Seethaler hat ein eindringliches und anschauliches Porträt des Wiener Lebens und der kritischen Stimmung um 1937/1938 gezeichnet. Er beschreibt die politischen Umwälzungen und deren Folgen für den Alltag der Wiener Bevölkerung wie ein Augenzeuge und vermittelt den damaligen Zeitgeist gekonnt. Dank des Einstreuens typischer Wiener Ausdrücke und des genauen Beschreibens bekannter Orte ist es nicht schwer, sich in der Geschichte zurechtzufinden und ein Gefühl für diese Ära zu bekommen. Seethaler gelingt es mit plastischen Beschreibungen und vor allem auch mit der Sprache, das allmähliche Kippen der Stimmung festzuhalten: Malt und schildert er die Idylle am Attersee noch in schillernden Farben und in einem fast zärtlichen Ton, werden die Erzählung und die Ausdrucksweise im Verlauf der Handlung immer ernster, realistischer und bedrückter. Dadurch gerät der Leser genau wie der Protagonist in den Sog der Zeit.

Genauso schnell und mühelos, wie die Atmosphäre für den Leser greifbar wird, so unmittelbar und geradewegs wird man mit dem Protagonisten und den anderen Hauptfiguren vertraut. Der anfangs sehr unbedarfte und unerfahrene Franz wächst einem mit seiner Neugier und Unbefangenheit in Windeseile ans Herz. Ich habe diesem sympathischen jungen Mann sehr gerne beim Erfahrungensammeln, Lernen und Heranwachsen vom „Burschi“ zum Mann zugesehen.  Seine Auffassungsgabe, Lernfähigkeit und vor allem sein zwangloser Umgang mit Menschen aller Schichten und jeglichen Alters haben mich sehr berührt. Auch Seethalers präzise und regelrecht liebevollen Beschreibungen der Mutter, Otto Tresnjeks, Sigmund Freuds und auch des Briefträgers sind imposant und äußert unterhaltsam. Gerade die rege Korrespondenz zwischen Franz und seiner Mutter in Form von rührseligen Postkarten und Briefen gefielen mir besonders gut, denn auch in ihnen spiegelt sich immer mehr Franz’ Heranreifen und gewonnene Erkenntnis wider.

In meiner Rezension zu Ein ganzes Leben habe ich bereits geschildert, was Seethalers Sprache ausmacht und was sie zu etwas komplett Einmaligem macht. Auch in Der Trafikant begegnet man diesem unglaublich leichtfüßigen, zwanglosen und doch geschliffenen Stil. Die Ausdrucksweise ist sowohl wunderschön und elegant als auch teilweise recht rustikal und unverblümt – manchmal sogar gleichzeitig. Das zeigt sich beispielsweise daran, dass es der österreichische Autor vermag, so derbe und vor allem plastische Ausdrücke wie „Vogelscheißebatzen“ (dieser Begriff ist mir eben gerade deshalb so gut in Erinnerung geblieben) scheinbar wie völlig selbstverständlich in seine Erzählung einzubauen, ohne dass diese auch nur ein bisschen an Ernsthaftigkeit verlöre. Im Grunde ist es eben gerade Seethalers Sachlich- und Deutlichkeit, die seine Werke von vielen anderen abheben. Die Romane kommen ohne viele Schnörkel, großartiges Ausschweifen oder ellenlange belanglose Beschreibungen aus und treffen dennoch oder wahrscheinlich genau deswegen mitten ins Herz. Und wer nun wegen Seethalers Hang zur Knappheit und Unzweideutigkeit befürchtet, dass er deswegen womöglich lediglich an der Oberfläche kratzen könnte, dem kann ich die Sorgen getrost nehmen: Die beiden von mir bisher gelesenen Romanen gehen reichlich in die Tiefe und hallen aus diesem Grund enorm nach. Robert Seethaler, wohlbemerkt ein ausgebildeter Schauspieler, besitzt die beeindruckende Gabe, genau die richtigen Worte und davon gerade so viel wie nötig zu finden – das gilt genauso für Figuren wie den asketischen und dörflichen Andreas Egger aus Ein ganzes Leben wie auch für den intellektuellen und weisen Professoren Freud oder den blauäugigen, aber wissbegierigen Franz Huchel aus Der Trafikant. Man merkt, dass der Autor ein unglaublich gutes Gespür für Gespräche und charakterliche Eigenarten besitzt. So schafft er es mit manchmal noch so simplen und minimalen Mitteln, das jeweils Maximale aus seinen Geschichten herauszuholen. Scheinbar völlig mühelos gelingt es Seethaler, sowohl bei noch so banalen Gelegenheiten das Spezielle als auch bei bedeutenden Geschehnissen das vielleicht nicht immer ganz so Offensichtliche zu beleuchten und dabei stets effektvolle Bilder zu zeichnen, die den Leser beispiellos anrühren.

Um ehrlich zu sein, kann ich gar nicht wirklich sagen, welcher der beiden Romane mir besser gefallen hat. Mich haben beide Geschichten, so unterschiedlich sie eben sind, auf ihre Weise angesprochen. Bei beiden war es allerdings eben besonders Robert Seethalers wirklich einzigartiger Schreibstil, der mich vollkommen faszinierte. Seethaler ist für mich – zusammen mit Benedict Wells – meine persönliche Entdeckung des Jahres 2016 und ich freue mich schon unglaublich darauf, noch seine drei anderen Romane (Die Biene und der Kurt, Die weiteren Aussichten und Jetzt wird’s ernst) zu lesen.

Habt ihr eine/n Schriftsteller/in, deren/dessen Werke euch ausnahmslos begeistern?
Verratet es mir gerne in den Kommentaren!

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